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Interessenkonflikte Schwere Kritik an medizinischen Fachgesellschaften

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

Bei Industriesymposien zahlen Unternehmen hohe Summen, um bei Ärzten für ihre Produkte werben zu können. Bei Industriesymposien zahlen Unternehmen hohe Summen, um bei Ärzten für ihre Produkte werben zu können. © iStock/tomozina
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Ob auf Kongressen, in Leitliniengremien oder bei Fortbildungen: Pharmaunternehmen haben ein Interesse daran, ihre Produkte bei Experten und Verordnern in guter Erinnerung zu halten. Transparency meint: Die Fachgesellschaften unterstützen sie unreflektiert dabei.

International gibt es schon lange den Trend, Beeinflussungen der Wissenschaft zu vermeiden und Interessenkonflikte klar zu benennen. Den deutschen medizinischen Fachgesellschaften wird nun vorgeworfen, sie würden die Zusammenarbeit mit der Industrie geradezu als „natürliche Symbiose“ darstellen und die Nachteile, die für Patienten entstehen, verschweigen. Noch dazu hätten sie kein Problembewusstsein dafür, wie abhängig sie bereits vom Geld der Industrie seien.

Die Kritik kommt von den Organisationen Transparency Deutschland, Leitlinienwatch und MEZIS („Mein Essen zahl‘ ich selbst“) und richtet sich an die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Diese hatte zwei Positionspapiere zur Zusammenarbeit mit der Industrie veröffentlicht, die deutliche Reaktionen hervorrufen.

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), selbst AWMF-Mitglied, schließt sich der Kritik an. Sie meint, die AWMF gebe sich mit einem „verharmlosenden Formelkompromiss“ zufrieden. Es werde Transparenz gefordert und versprochen, jedoch nichts gegen die „Manipulation durch Pharmawerbung“ bei Fortbildungen unternommen. Es sei belegt, dass durch Sponsoring finanzierte Veranstaltungen von Teilnehmern nicht als Werbung erkannt würden – selbst wenn Interessenkonflikte deklariert würden. Pharmasponsoring könne die Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig gefährden.

Die AWMF entgegnet nun in einer Stellungnahme, Interessenkonflikte zwischen wissenschaftlicher Medizin und der Industrie seien unvermeidbar. Man müsste dafür auf Austausch verzichten – und dies sei mit Blick auf die Weiterentwicklung der Behandlungsmöglichkeiten nicht erstrebenswert. Die DEGAM regt an: „Wer wissenschaftlichen Austausch mit der Pharmaindustrie sucht, sollte sich direkt an die Abteilung Forschung und Entwicklung wenden, die typischerweise auf den Kongressständen nicht vertreten ist.“

An der Kofinanzierung von Fortbildungen und Kongressen führt aus Sicht der AWMF für viele Fachgesellschaften kein Weg vorbei. Wichtiger sei es daher, Interessenkonflikte jeder Art durch ein standardisiertes Regelwerk sichtbar zu machen und wissenschaftliche Neutralität zu sichern. Die Arbeitsgemeinschaft sehe ihre Aufgabe darin, solche Regelwerke zu definieren. Maximalforderungen oder gar eine „unterschwellige Kriminalisierung“ würden dabei nicht helfen. Denn sie würden dort, wo eine Kooperation zwischen Medizin und Industrie notwendig ist, eine offene Kontaktaufnahme behindern. Der Umgang mit Interessenkonflikten müsse immer wieder neu beleuchtet und ggf. gesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden.

Transparency Deutschland, Leitlinienwatch und MEZIS sehen das anders. Sie wollen eine gesetzliche Regulierung, die die Geldflüsse aller Akteure im Gesundheitswesen offenlegt. Zusätzlich haben sie sechs Forderungen formuliert.

Die Forderungen der Transparenz-Organisationen

Transparency Deutschland, Leitlinienwatch und MEZIS wollen eine gesetzliche Regulierung, die alle Geldflüsse von Akteuren im Gesundheitswesen offenlegt. Zusätzlich fordern sie, dass
  • neben allgemein akzeptierten gemeinsamen Interessen von Medizin und Industrie gleichwertig gegensätzliche Interessen und mögliche Risiken benannt werden. Die Ärzteschaft sei für das umfangreiche Beeinflussungs-Repertoire der Pharmakonzerne zu sensibilisieren.
  • sämtliche Interessen und daraus mögliche Interessenkonflikte der beteiligten Mediziner in den entsprechenden Publikationen veröffentlicht und vor allem „selbst und fremd bewertet“ werden.
  • Sachverständige mit Interessenkonflikten grundsätzlich von Leitliniengremien ausgeschlossen werden. Im Ausnahmefall sei zu begründen, weshalb nicht auf Autoren mit Industriekontakten verzichtet werden konnte.
  • gezielt darauf hingearbeitet wird, Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen ohne die finanzielle Unterstützung der Industrie durchzuführen.
  • Stände der pharmazeutischen Industrie bei Kongressen auf das für die Informationsvermittlung sinnvolle Maß begrenzt werden. Überdimensionierte Marketing-Auftritte führten dazu, dass weniger finanzkräftige, aber dennoch wichtige Anbieter und Verbände nur am Rande wahrgenommen ­würden.
  • auf eine ärztliche Fortbildung durch Herstellerfirmen („Industriesymposien“) völlig verzichtet wird.

Hier ein Überblick über die Bereiche, in denen sie eine starke Beeinflussung von Ärzten durch die Pharmaindustrie sehen:

Beraterverträge

Laut Transparency, Leitlinienwatch und MEZIS sind fast alle prominenten Vertreter medizinischer Fachgesellschaften durch Beraterverträge mit Arzneimittelfirmen liiert. Die Industrie binde sie als Meinungsbilder und verpflichte sie auf ihre Interessen. Dabei gehe es darum, Produkte in den Köpfen der ärztlichen Meinungsführer zu verankern, damit diese dann als Multiplikatoren wirken, etwa durch Vorträge, Artikel und Mitarbeit in Leitliniengremien.

Leitlinien

Bei vielen AWMF-Leitlinien habe die Mehrzahl der Autoren finanzielle Unterstützung von der Arzneimittelindustrie erhalten, betonen die drei Transparenz-Organisationen. Oft sei diese von den Herstellern der zu bewertenden Produkte gezahlt worden. Immerhin habe die AWMF in den letzten Jahren zwar eine Regulierung eingeführt, die Leitlinienautoren mit Interessenkonflikten bei Abstimmungen die Enthaltung nahelegt. Die Nicht-Beteiligung befangener Autoren an einer Leitlinie sei jedoch der konsequentere Weg.

Fortbildungen

Transparency & Co. sowie die DEGAM betonen, dass der irreführende Effekt gesponserter Fortbildungen wissenschaftlich bekannt sei. Selbst Vertreter der Industrie würden zugeben, dass die Veranstaltungen dem Marketing dienten. Die Transparenz-Organisationen halten das Argument der AWMF, Kongresse und Fortbildungen seien ohne Unterstützung der Industrie nicht umsetzbar, für vorgeschoben. Die Pandemie habe gezeigt, dass die Wissensweitergabe bei Online- und Hybridkongressen mit geringen Kosten funktioniere.

Industriesymposien

Vor allem bei Jahreskongressen von Fachgesellschaften, in deren Fachgebiet überwiegend medikamentös behandelt wird, werde die Therapiefortbildung den Pharmafirmen überlassen, kritisieren Transparency, Leitlinienwatch und MEZIS. Gegen stattliche Summen werde den Unternehmen der „Zugang zu den ärztlichen Köpfen“ verkauft. Teilweise würden 40.000 Euro für zwei Stunden gezahlt – bei Selbstkos­ten für Saal und Technik von maximal 4.000 Euro. Es wundere daher nicht, dass aus den Fachgesellschaften kaum Kritik an den Arzneimittelherstellern zu vernehmen sei. Die Ärztekammern würden für solche Veranstaltungen keine Fortbidlungspunkte vergeben, da das wissenschaftliche Gewand nur Tarnung sei.

Industrieausstellungen

Auch an den Industrieausstellungen bei Kongressen verdienen die Fachgesellschaften Geld. Es sei offensichtlich, dass es bei vielen Ständen nicht um die Vermittlung von Information gehe, so die drei Transparenz-Organisationen. Man denke etwa an kostenlose Coffee Lounges und Snackbars, Video-Großleinwände und Gewinnspiele. Die DEGAM zeige hingegen seit Jahren, dass eine herkömmliche Industrieausstellung verzichtbar sei.

Forschung und Entwicklung

Um neue Behandlungsverfahren zu entwickeln, kooperieren Pharmaunternehmen mit Ärzten und Kliniken. Ihre Tätigkeit gilt als Auftragsforschung und wird bezahlt. Allerdings entwerfen die Unternehmen die Studienpläne selbst und verantworten die statistische Auswertung. Somit könnten sie die Ergebnisse und die Kommunikation darüber beeinflussen, kritisieren Transparency, Leitlinienwatch und MEZIS. Da Studienärzte dazu neigen würden, sich mit dem Produkt zu identifizieren, sollten diese nicht an der Medikamentenentwicklung beteiligt werden.

Medical-Tribune-Bericht

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