Anzeige

Was eine deutsche Ärztin im Flüchtlingslager Moria erlebte

Gesundheitspolitik , Interview Autor: Isabel Aulehla

Nachdem das Lager Moria 2020 abbrannte, wurde ein neues Camp errichtet – die Verhältnisse dort sind nach wie vor menschenunwürdig. Nachdem das Lager Moria 2020 abbrannte, wurde ein neues Camp errichtet – die Verhältnisse dort sind nach wie vor menschenunwürdig. © iStock/Georg Gassauer
Anzeige

Die Internistin und Rheumatologin Dr. ­Friederike Lutz hat auf der griechischen Insel Lesbos vier Monate lang Flüchtlinge versorgt.­ Hier erzählt sie vom Elend im neuen Moria und den traumatisierten ­Patienten.

Sie haben in der Klinik gekündigt, um auf Lesbos humanitäre Hilfe zu leisten. Was hat sie dazu bewegt?

Dr. Lutz: Es klingt vielleicht komisch, aber das steckt einfach in mir. Ich habe meinen Beruf gewählt, um Menschen zu helfen. Kurz nach dem Studium war ich für vier Wochen in in einer kleinen Klinik in Peru. Dort habe ich erstmals einen Einblick in die humanitäre Hilfe bekommen. Das hat mich nie ganz losgelassen. Letztes Jahr habe ich dann entschieden, endlich das zu machen, was ich schon lange im Kopf hatte. Lesbos war mir natürlich durch Medienberichte bekannt. Ich finde, man muss nicht weit reisen, um Hilfe zu leisten.

Für welche Organisation haben sie gearbeitet und wie lange waren Sie dort? 

Dr. Lutz: In den ersten zwei Monaten habe ich für Kitrinos Healthcare, eine britische NGO, gearbeitet und eine Frauenunterkunft betreut. Das war eine der wenigen Einrichtungen, die nach dem Feuer letztes Jahr geschaffen wurden, um besonders vulnerable Einwohner des alten Lagers separat unterzubringen. In diesem Fall Frauen und Kinder, die sich alleine auf den Weg gemacht haben. Danach war ich für zwei weitere Monate mit Medical Volunteers im „neuen“ Moria, also dem neuen Zeltlager. 

In welchen Zuständen leben die Flüchtlinge? 

Dr. Lutz: Ich habe mich dort wie in einer anderen Welt gefühlt. Die Menschen leben in großen Zelten, mit 8 bis 16 Personen. Sie passen vom Platz her geradeso nebeneinander, wenn sie wie Sardinen auf dem Boden liegen. Der Ort ist furchtbar unwirtlich. Durch die Nähe zum Meer ist der Wind sehr stark, der Boden nimmt Wasser nur sehr schlecht auf. Wenn es regnet, wird das Gelände zu einer Schlamm- und Schuttwüste. Es gibt praktisch keine Elektrizität und auch kein heißes oder fließendes Wasser. Es gibt so etwas wie Dixiklos und wenige Duschen. Es sind wirklich Standards, die einen sprachlos machen, vor allem wenn man bedenkt, dass man mitten in Europa ist. 

Welchen Eindruck haben die ­Menschen auf Sie gemacht? 

Dr. Lutz: Es hat mich extrem beeindruckt, mit welcher Würde sie ihre Situation ertragen und das Beste daraus machen. Wenn man die Zelte betritt, überrascht es, wie wohnlich sie eingerichtet sind. Auch, wenn Patienten vor einem sitzen, fragt man sich, wie sie es schaffen, sich ohne fließend Wasser herzurichten. Wenn man aber genauer hinschaut und nachfragt, kommen natürlich Dinge zum Vorschein, die einen sehr nachdenklich machen. Man erfährt dann, warum die Menschen geflohen sind, welche Traumata sie erlitten haben und wie gebrochen sie sind – und wie Europa sie durch die Unterbringung im Camp weiter bricht. 

Auch das Feuer, das letztes Jahr das Camp verwüstete, hat den ohnehin traumatisierten Flüchtlingen psychisch zugesetzt. Mitten in der Nacht mussten sie erneut alles zurücklassen und vor den Flammen fliehen. Sie verloren ihr Hab und Gut und ihre Dokumente. In den Tagen danach lebten sie auf der Straße, es entstand ein vollkommen gesetzloser Raum. Es gab Verteilungskämpfe und Gewaltausbrüche. Einige Frauen haben mir berichtet, dass sie in dieser Zeit vergewaltigt wurden.

Wie gehen Sie emotional mit diesem Leid um?

Dr. Lutz: Ich glaube, das ist Typsache. Wenn man dort hingeht und denkt, man könnte die Grundstrukturen verändern, wird man zerbrechen. Man kann nur in den Medien auf die Situation im Camp aufmerksam machen und informieren. In der medizinischen Arbeit vor Ort ist das aber nicht der Fokus, auch wenn die Strukturen der Grund für viele Erkrankungen sind. Man muss sich vor Augen halten, dass man den Menschen im Kleinen bei ihren Problemen hilft. Manchmal kann man für ein kleines Lächeln sorgen oder schon durch Händchenhalten trösten. Wenn man an diese Momente denkt, ist das aushaltbar. Wenn Flüchtlinge aber psychogene/dissoziative Anfälle bekommen, zusammenbrechen oder um sich schreien, dann geht das natürlich an die Substanz. 

Wie gut ist die medizinische Versorgung im Camp? 

Dr. Lutz: Nach dem Brand waren für jeweils sechs Wochen  Teams der WHO vor Ort. Sie betrieben ein kleines Labor, das immer noch dort ist. Inzwischen arbeiten weitere medizinische ­Player im Lager. Wir hatten eine Art großes Containerzelt, in dem zwei griechische Allgemeinmedizinerinnen, eine Hebamme sowie vier Ärzte von Medical Volunteers tätig waren, machmal auch ein Pädiater. Auch zwei  Krankenschwestern von Medical Volunteers haben für die Wundversorung mitgearbeitet. Vor dem Zelt haben die Leute über Stunden in langen Schlangen gewartet. Kleine Probleme wurden schon vorne  an der Triage gelöst, etwa durch Tabletten. 

Wir hatten kleine Sprechzimmer, in denen wir mit Dolmetschern die Untersuchungen durchgeführt haben. Auch Röntgen war möglich, wenn auch nicht immer. Manchmal waren kleine Ultraschallgeräte vorhanden, wenn Freiwillige welche mitgebracht haben. Insgesamt würde ich sagen, dass es dort eine medizinische Versorgung gibt, aber auf sehr niedrigem Niveau.

Welche Erkrankungen sind Ihnen in Erinnerung geblieben?

Dr. Lutz: Vor allem die vielen schweren psychischen Probleme, die die Menschen haben – durch die Flucht, durch das Feuer, durch das Warten. Ich habe Mütter gesehen, die angefangen haben, ihre Kinder zu schlagen, weil sie so aggressiv und verzweifelt waren. Sie können den Kleinen keine Zukunft bieten, dabei sind sie geflohen, weil sie dachten, in Europa  sei es besser. Außerdem war jede dritte Frau im Camp schwanger. Das verursacht großes Leid, denn in diesem Lager eine Schwangerschaft durchzuhalten oder ein Baby zu versorgen, ist extrem hart. 

Ansonsten habe ich oft Patienten mit Schmerzen behandelt, sei es, weil es sehr kalt war und die Leute auf dem Boden schlafen oder weil der Schmerz psychogen war. Natürlich gehen viele der Krankheiten auch auf die hygienischen Bedingungen zurück: Läuse, Scabies und infizierte Wunden sind hochprävalent, auch Harnwegs- und Atemwegsinfekte.

Wie macht sich die Pandemie in Moria ­bemerkbar?

Dr. Lutz: Überraschenderweise gibt es dort nicht viele Fälle von COVID-19. In den letzten Wochen gab es seitens der griechischen Regierung und der WHO rund 500 Tests pro Woche, bei zufällig ausgewählten Personen. Soweit ich weiß, fiel keiner davon positiv aus. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen gab es auf Lesbos nicht viele Coronafälle, die Inzidenz lag selten über 100. Zum anderen dürfen die Flüchtlinge das Lager nur einmal pro Woche verlassen. Natürlich muss man von einer gewissen Dunkelziffer ausgehen. Die Menschen ließen sich nur ungern testen, weil der Isolationsbereich, der für COVID-19-Verdachtsfälle geschaffen worden war, zu Beginn massiv unterversorgt war. Die Menschen hatten wirklich Angst davor, viele von ihnen sind mit Symptomen wahrscheinlich  nicht zu uns gekommen. 

Was sagen Sie zum Umgang der Politik mit der verheerenden Situation auf Lesbos?

Dr. Lutz: Ich habe den Eindruck, dass es sich bei dem neuen Camp um eine rein politische Inszenierung handelt. Dort leben 7000 Flüchtlinge – es wäre ein Leichtes, sie auf die EU-Länder zu verteilen. Man könnte auch bessere Unterkünfte bauen. Dass man die Menschen stattdessen so dahinvegetieren lässt, dient der Abschreckung und ist meiner Meinung nach völlig unmenschlich. Politiker würden anders entscheiden, wenn sie mal für einige Tage dort leben würden. 

Vor allem müssen wir uns aber bewusst machen, dass wir zufällig in Deutschland geboren sind und das Glück haben, im Luxus zu leben. Jeder von uns kann eines Tages zum Flüchtling werden. Daher sollten wir Geflüchtete ebenso gut behandeln, wie wir es uns für uns selbst wünschen würden.

Welche Skills brauchen Ärzte in der humanitären Hilfe?

Sprachkenntnisse: Zur ärztlichen Kommunikation empfiehlt sich ein Sprachniveau auf Level B2, in jedem Fall aber sollte man sich mit dem medizinischen Vokabular beschäftigen. Es hängt aber auch vom Einsatzland ab und davon, ob man mit Dolmetschern arbeitet. Toleranz und Neugier im Team: Die Ärzte kommen oft aus verschiedenen Ländern, jeder diagnostiziert und behandelt anders. Das erweitert den Horizont, kann aber auch zu Differenzen führen. Deutsche Besserwisserei ist hier unangebracht. Toleranz gegenüber Patienten: Beschwerden werden von Menschen aus anderen Kulturen oft anders wahrgenommen und geschildert. Patienten sind z.B. sehr auf Antibiotika fixiert. Probleme im Intimbereich oder Verhütung sind mit Fingerspitzengefühl anzusprechen. Schmerzen können auch Ausdruck psychischer Probleme und Traumatisierung sein. Perfektionismus vergessen: Hightech-Medizin gibt es nicht. MRT oder CT sowie ausführliches Labor sind Luxus. Oft kann man die Diagnose daher nicht so exakt stellen, wie man gerne würde. Ggf. behandelt man empirisch das Wahrscheinlichste. Improvisieren: Jederzeit kann es passieren, dass man Neues wagen muss, da nicht immer ein Fachkollege vor Ort ist. Das kann Einfaches sein, wie eine Ohrspülung, aber auch Schweres, wie ein Kind im Notfall zu sedieren oder blutende Schwangere zu versorgen. Keine Berührungsängste vor Schilderungen erlebter sexueller Gewalt und Folter, den entsprechenden Verletzungen, schlimmsten dissoziativen Anfällen nach Traumatisierung, vor Dreck, Gerüchen und der Tatsache, selbst ständig schmutzig und in engem Kontakt mit verschiedensten Erregern zu sein.

Medical-Tribune-Interview

Anzeige