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Licht und Schatten Welche Lehren lassen sich aus der COVID-19-Pandemie ziehen?

Gesundheitspolitik Autor: Dr. Ingolf Dürr

Die COVID-19-Pandemie hat das deutsche Gesundheitssystem an seine strukturellen Kapazitätsgrenzen gebracht. Die COVID-19-Pandemie hat das deutsche Gesundheitssystem an seine strukturellen Kapazitätsgrenzen gebracht. © Rick – stock.adobe.com
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Die COVID-Pandemie ist vorbei, auch wenn die Infektionszahlen in diesem Herbst wieder steigen. Höchste Zeit aufzuarbeiten, was aus Sicht der Hausärzte in den Corona­jahren eher gut oder weniger gut gelaufen ist. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) versucht sich an einem kritischen Rückblick und gibt Empfehlungen für künftige Krisen.

Auch wenn die Pandemiephase vorbei ist, bleibt ­COVID-19 nicht nur in der hausärztlichen Praxis, sondern auch in der wissenschaftlichen Community sehr präsent, konstatierte ­DEGAM-Präsident Prof. Dr. ­Martin Scherer beim diesjährigen Kongress der Fachgesellschaft. Es sei nun an der Zeit, die Erfahrungen sorgfältig und unaufgeregt zu analysieren, um daraus zu lernen und für künftige Krisen besser gerüstet zu sein. Als wissenschaftliche Fachgesellschaft fühlt sich die DEGAM genau zu solch einer Analyse berufen und hat dazu ein umfangreiches Positionspapier verfasst, das die Pandemiezeit aufarbeiten soll.

Virus traf auf labiles Gesundheitssystem

Rückblickend lasse sich feststellen, dass die COVID-19-Pandemie auf ein Gesundheitssystem traf, das an vielen Stellen bereits an seine personelle und strukturelle Kapazitätsgrenzen gebracht worden war, heißt es in dem Papier. Dass man die Situation überhaupt bewältigt hat, sei nur dem Engagement zahlreicher Menschen zu verdanken, die über zwei Jahre hinweg an ihre Grenzen und darüber hinaus gegangen seien. Nicht nur in Krankenhäusern, auch in Hausarztpraxen seien viele Teams mit ihren MFA über sich hin­ausgewachsen, um die Versorgung aufrechtzuerhalten.

Aus der Pandemie habe man gelernt, dass es im Gesundheitswesen verlässliche Strukturen, mehr personelle Ressourcen und die systematische Aufbereitung von Evidenz brauche. Gesellschaftlich gelte es, die Resilienz zu fördern. Dazu gehöre auch das gesamtgesellschaftliche Bemühen um eine konstruktive Kommunikations- und Debattenkultur. In der Pandemie sei es nur bedingt gelungen, eine Verständigung über das Spannungsfeld von Werten wie Schutz von Risikogruppen versus individuelle Selbstbestimmung oder Autonomie des Einzelnen zu entwickeln. Zudem seien die mittel- und langfristigen Folgen der Schutzmaßnahmen nicht immer ausreichend berücksichtigt worden.

Die Coronazeit habe zudem schmerzhaft verdeutlicht, dass man eine bessere Datengrundlage benötige, um eine hochwertige medizinische Versorgung zu gewährleisten. Deutschland dürfe bei Pandemien nicht mehr ausschließlich auf Forschungsdaten aus anderen Ländern angewiesen sein. Die DEGAM empfiehlt daher, Strukturen zur systematischen Generierung von belastbaren epidemiologischen Daten aufzubauen und vorhandene Daten besser zu nutzen bzw. verfügbar zu machen. Denn bislang existiere keine systematische Erfassung des Infektionsgeschehens. Für eine bessere Datengrundlage lasse sich an einige bereits vorhandene Strukturen anknüpfen: Vorhandene Forschungsstrukturen, z. B. existierende Sentinelpraxen, sollten zügig für Erweiterungen auf aktuell notwendige Forschungsfragen genutzt werden. Benötigt würden dafür schnelle digitale Kommunikationswege. Hausarztpraxen sollten künftig digital an Gesundheitsämter angebunden sein. Grundsätzlich müsse geklärt werden, wie Absprachen zwischen Behörden, ÖGD sowie ambulantem und stationärem Sektor in einer Pandemie ablaufen, um einen Flickenteppich von divergierenden und teils inkompatiblen Regelungen zu vermeiden.

Videosprechstunde sollte ausgebaut werden

Darüber hinaus müsse die Gesundheitspolitik noch einige Hausaufgaben erledigen, mahnt die DEGAM. So habe sich die telefonische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zur Infektprävention bewährt und dürfe nicht wieder eingestellt werden. Außerdem müsse nicht nur die eAU weiterentwickelt werden, zum Beispiel mit der Speicherung der Bestätigung in der ePA, sondern auch das eRezept. Die Videosprechstunde für bestimmte Beratungsanlässe sollte ausgebaut werden. Bürokratische Regelungen müssten auf ein notwendiges Minimum reduziert werden, um die Arbeitslast in hausärztlichen Praxen gerade im Krisenfall nicht unnötig zu erhöhen.

Um die Stärkung der Krisenresilienz gehe es auch in der Hausarztpraxis, in der Krisen ungefiltert ankommen. Deshalb müssten frühzeitig Strategien zur Krisenprävention und -bewältigung in der Hausarztmedizin diskutiert werden. Denn in der Bewältigung der COVID-19-Pandemie hätten die Hausarztpraxen über 90 % der COVID-Patienten behandelt und so auch den stationären Sektor geschützt.

Für die DEGAM ist klar, dass Belastungen bei weiteren Krisen (Pandemien) nicht mehr derart sozial ungleich verteilt sein dürften wie in der Coronazeit. Dazu müsse die Allgemeinmedizin im Gesundheitswesen gestärkt werden, denn die haus­ärztliche Versorgung umfasse per se die Betreuung aller sozialen Gruppen. Daraus ergebe sich die große Chance, auch sozial benachteiligte Gruppen gut zu erreichen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die hausärztliche Versorgung auch in Krisenzeiten gesichert ist, sei eine ausreichende Finanzierung für diesen Sektor und ein stärker primärärztlich ausgerichtetes System. So könnte die Hausarztpraxis wieder attraktiver für den medizinischen Nachwuchs werden, hofft die ­DEGAM. Sollte dies nicht geschehen, werde es nicht möglich sein, den zentralen Beitrag der Hausarztmedizin in der Bewältigung künftiger Pandemien weiterhin zu leisten. Damit Praxen niedrigschwellig für alle erreichbar bleiben und vulnerable Gruppen behandelt werden können, müsse man eine Fehlallokation von Ressourcen vermeiden, betont die DEGAM.

Hausärzte agierten pragmatisch und flexibel

In der Krise habe sich zudem die Schwerpunktsetzung der hausärztlichen Versorgung verändert. So gebe es im hausärztlichen Aufgabenspektrum Tätigkeiten, die nicht zwingend ärztlicher Natur seien, z.B. DMP, Vorsorgeuntersuchungen, allgemeine Impfungen, Reha- und Kur­anträge. Diese könnten substituiert werden, schlägt die Fachgesellschaft vor. Denn in der Krise müssten sich die Hausärzte auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Auch aus dieser Erfahrung könne man lernen. 

Als sehr sinnvolle Maßnahme in der Pandemie habe sich zudem die Trennung von Infekt- und anderen Patienten erwiesen. Strukturelle Maßnahmen, die diesen Ansatz stärken, sollten gefördert werden.

Die Pandemie habe einerseits gezeigt, wie pragmatisch und flexibel Hausärzte mit Extremsituationen umgehen können, und was die haus­ärztliche Versorgung nicht nur als Schutzwall für den stationären Sektor zu leisten vermag. Andererseits sei deutlich geworden, wie empfindlich die Praxen für staatliche Steuerung seien und welche zusätzliche unnötige Belastung durch Missmanagement (Planung, Logistik, Kommunikation, Bürokratie etc.) entstehen könne. 

Gerade die wechselnden bzw. inkohärenten bürokratischen Vorgaben hätten viel unnötige Kraft gekos­tet, kritisiert die DEGAM. Nicht nur deshalb müsse die hausärztliche Expertise von Anfang an in Krisengremien eingebunden sein, um praktikable und zielgerichtete Pandemie-Maßnahmen für die Primärversorgung zu gewährleisten. Deshalb sollten schon jetzt unter hausärztlicher Beteiligung Katastrophenpläne für die medizinische Versorgung für den nächsten Krisenfall erstellt und auch elementare Schutzmaterialien fest eingeplant werden.

Und für die Praxen selbst gelte: Krisenprävention sollte als Teil des Qualitätsmanagements verstanden werden – mit Raum für kreative Lösungen. Gute Kommunikation stärke die Resilienz des gesamten Praxisteams. Das könne sogar dazu führen, dass bestimmte Krisensituationen weniger krisenhaft wahrgenommen werden, zeigt sich die DEGAM optimistisch.

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