
Mit Abnehm-Apps gegen die Versorgungslücke Wie DiGA bei der Adipositastherapie helfen können

Herr Prof. Hauner, in der S3-Leitlinie wird eine kombinierte Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie empfohlen. Wie gut ist die Basistherapie in der Regelversorgung verankert?
Prof. Hauner: Die Empfehlung für eine Basisversorgung bei Adipositas wird in der medizinischen Praxis kaum umgesetzt. Das liegt an den Rahmenbedingungen: Diese Art von Therapie ist im Abrechnungssystem nicht vorgesehen – weder in der GOÄ noch im EBM.
Welche Optionen der Bezuschussung von z. B. Ernährungsprogrammen gibt es?
Die Möglichkeiten sind begrenzt. Am wichtigsten ist wahrscheinlich die Notwendigkeitsbescheinigung nach § 43 SGB V, um eine Ernährungstherapie durch die Krankenkasse bezuschussen zu lassen. Ob und in welchem Umfang eine Kostenübernahme erfolgt, entscheiden aber die Kassen im Einzelfall. Der Prozess ist sehr mühsam und umständlich.
Die Patientinnen und Patienten müssen die Kosten im Regelfall vorschießen und einen Teil selbst tragen. Doch Menschen mit Adipositas kommen oft aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen und können sich das nicht unbedingt leisten.
Darüber hinaus existieren Selektiv- oder Sonderverträge, über die bestimmte Programme bezuschusst oder vollständig übernommen werden können. Die Verträge sind jedoch meist nur regional verfügbar und unterliegen teils wechselnden Bedingungen.
Bei den DiGA zur Behandlung der Adipositas besteht kein Finanzierungsproblem: Liegt eine ärztliche Diagnose für krankhaftes Übergewicht vor, übernehmen die gesetzlichen Kassen die Kosten von Anfang an. Inwieweit können die Anwendungen helfen, bestehende Versorgungslücken zu schließen?
DiGA ermöglichen Betroffenen Zugang zu einer Basistherapie – gerade im Bereich Adipositas ist das wichtig, da es an Alternativen mangelt. Da die DiGA von den Kassen übernommen werden, ergibt sich zudem eine gewisse Sicherheit und Planbarkeit für die Therapie. Außerdem können die Apps wiederverordnet werden. Das ist insbesondere bei Adipositas entscheidend, denn drei Monate reichen für die Behandlung nicht aus.
Die Apps sind einfach in ihrer Anwendung. Manche Menschen kommen damit sogar besser zurecht als mit dem Präsenzangebot, denn eine DiGA können Betroffene jederzeit nutzen und müssen nicht erst mühsam einen Termin vereinbaren. Somit helfen digitale Anwendungen, Probleme wie Ärztemangel, Kostendruck und die Versorgung sozial benachteiligter Gruppen anzugehen.
Derzeit gibt es zwei DiGA für die Adipositastherapie. Wie ist die aktuelle Evidenzlage zur Wirksamkeit der beiden Anwendungen?
Für die App von Oviva konnte man zunächst in einer Studie aus dem Jahr 2023 bei einer dreimonatigen Nutzungsdauer eine Gewichtsabnahme von 3,2 % im Mittel feststellen. Das entspricht dem, was auch andere Programme innerhalb von zwölf Wochen erzielen. Kürzlich wurde eine zweite Studie zu Oviva veröffentlicht, die eine Reduktion von über 5 % nach sechs Monaten zeigt. Demnach scheint sich der Gewichtsverlust bei manchen Patientinnen und Patienten fortzusetzen, wenn sie die DiGA weiterhin nutzen. Mit der Anwendung von zanadio erreichten Teilnehmende einer weiteren Arbeit über einen Zeitraum von einem Jahr eine Gewichtsabnahme von durchschnittlich 7,75 %.
Inwiefern sich Begleiterkrankungen mithilfe der DiGA bessern, wurde bislang wenig untersucht. Das ist jedoch zweitrangig, denn es ist allgemein bekannt und belegt, wie sich z. B. eine Gewichtsreduktion auf den Blutdruck auswirkt.
Wie schneiden die DiGA im Vergleich zu Präsenzangeboten ab?
Wir haben keinen direkten Kopf-zu-Kopf-Vergleich. Insofern bleibt eine gewisse Restunsicherheit. Eine solche Untersuchung wäre sinnvoll – etwa indem man eine DiGA mit einer guten Ernährungsberatung von fünf oder sechs Einheiten plus Sport über ein halbes Jahr direkt vergleicht. Aber die Finanzierung solcher unabhängigen Studien ist schwer zu stemmen.
Wie hoch ist die Adhärenz bei den DiGA zur Adipositastherapie?
Ich habe damals für eine der Apps an einer Evaluationsstudie mitgewirkt. 15 bis 20 % der Teilnehmenden haben die App kaum genutzt. So in etwa dürfte die Rate auch bei anderen DiGA sein. Ich habe den Eindruck, dass der Anteil sogar gestiegen sein könnte. In der Praxis wird nicht immer ausreichend nachgefragt, ob Patientinnen oder Patienten bereits Erfahrungen mit Apps haben und ob sie eine DiGA generell nutzen würden. Das ließe sich verbessern, z. B. indem man eine DiGA erst mal nur für zwei Wochen verordnet und dann eventuell auch zurückzieht.
Wie häufig wird eine DiGA nach einem dreimonatigen Nutzungszeitraum erneut verordnet?
Ich schätze die Wiederverschreibungsquote nach der ersten Verordnung auf 30 bis 40 %. Das ist zu wenig, weil drei Monate nicht ausreichen, um den Lebensstil dauerhaft zu ändern. Aus meiner Sicht sollten Betroffene die App über ein Jahr möglichst konsequent nutzen und können anschließend versuchen, auf eine solche Unterstützung zu verzichten.
Welche Personengruppen profitieren besonders von den DiGA – für wen eignen sie sich eher nicht?
Vor allem Jüngere und Menschen um die 50 Jahre nutzen die DiGA, wobei man das natürlich nicht pauschalisieren kann. Es gibt durchaus 70-Jährige, die mit einer DiGA sehr gut umgehen können.
Eine Voraussetzung ist jedoch, dass die Patientin oder der Patient ein Smartphone besitzt. Wenn jemand keine Apps nutzen möchte, sollte man diese auch nicht verordnen. Das bedeutet, wir brauchen beides – sowohl die digitalen Anwendungen als auch Präsenzangebote.
Wie steht es um die Chancengleichheit beim Zugang zu den DiGA – gerade Menschen mit geringem Einkommen bzw. begrenztem Zugang zu gesundheitsfördernden Ressourcen sind häufig von Adipositas betroffen?
Sozial benachteiligte Menschen erreicht man im Versorgungsalltag meist nicht. DiGA bieten einen großen Vorteil, denn die meisten Personen aus diesen Gruppen besitzen ein Smartphone und sind digital aktiv. Das eröffnet die Chance, diese Patientengruppen besser einzubinden.
Voraussetzung ist jedoch, dass die Anwendungen verständlich gestaltet sind – in einfacher Sprache. Oft sind aktuelle Programme noch zu kompliziert, häufig von und für Akademikerinnen und Akademiker entwickelt. In diesem Bereich besteht noch Nachholbedarf.
Mehr als die Hälfte der Hausärztinnen und -ärzte verordnet noch immer keine DiGA. Woran liegt das – und wie lässt sich das ändern?
Ich denke, das ist völlig normal. So etwas entwickelt sich nicht über Nacht. Im ersten Jahr gaben nur 7 % der Kassenärztinnen und -ärzte an, eine DiGA zu verordnen. Inzwischen liegt die Zahl deutlich höher. Ich gehe davon aus, dass der Anteil weiter steigen wird. Der aktuelle DiGA-Report zeigt, dass auch die Verordnungszahlen zunehmen. Es ist zu erwarten, dass mit der Zeit auch die Patientennachfrage steigt.
Sicherlich lassen sich die Anwendungen und das Betreuungssystem noch verbessern. Wir benötigen mehr Daten dazu, wie man die Apps optimal einsetzt. Aber die ersten Jahre sind in der Summe positiv.
Welche Erwartungen haben Sie an das DMP Adipositas – auch im Hinblick auf die Integration von DiGA?
Im DMP kann nur das eingesetzt werden, was schon Teil der Routineversorgung ist. Im Bereich der Adipositastherapie ist das eine Katastrophe, denn bislang stehen nur die DiGA zur Verfügung.
GLP1-Rezeptoragonisten zur Gewichtsreduktion gelten laut § 34 SGB V als Lifestyle-Medikamente und sind daher von der Erstattung durch die GKV ausgeschlossen – obwohl das mit Lifestyle längst nichts mehr zu tun hat. GLP1-Rezeptoragonisten sind hochwirksame Medikamente.
Inwiefern könnte die Integration von Gesundheitsdaten in die ePA dazu beitragen, die Behandlung und den Therapieverlauf von Adipositas zu verbessern?
Die Integration von DiGA-Daten in die ePA ist notwendig. Zumal Ärztinnen und Ärzte bereits jetzt – mit Einwilligung der Patientinnen und Patienten – Einblick in DiGA-Daten wie Gewichtskurven erhalten können.
Wie lassen sich die DiGA besser in der Regelversorgung etablieren?
Dafür braucht es einen klaren Plan, Geduld und ein längerfristiges Programm. Sie bieten aber heute schon eine gute Möglichkeit für Hausärztinnen und Hausärzte, geeigneten Patientinnen und Patienten mit Adipositas eine gute und wirksame Basis anzubieten. Wichtig ist auch, dass wir deutlich mehr in die Forschung investieren. DiGA könnten einen Zeitenwandel bei der Behandlung chronischer, lebensstilbedingter Erkrankungen darstellen – und angesichts des wachsenden Personalmangels im Gesundheitssystem zu einer wichtigen Säule in der Routineversorgung werden.
Zwei Apps für die Adipositastherapie
Es gibt aktuell zwei DiGA zur Adipositastherapie. Beide orientieren sich an der S3-Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. Die Anwendungen beinhalten Elemente der Ernährungs- und Verhaltenstherapie und fördern regelmäßig körperliche Aktivität, teils unterstützt durch Schrittzähler. Beide Apps basieren auf den Säulen Selbstmonitoring, Selbstmanagement und Selbstschulung.
Indiziert sind die DiGA für Personen mit einem BMI von 30–40 kg/m2. Kontraindikationen bestehen u. a. bei Hypothyreose oder psychischen Erkrankungen.
Quelle: Medical-Tribune-Interview