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Wie reagieren auf die Reha-Gier?

Autor: Dr. Jörg Vogel

Gemsenhaft hoppeln die Paare durchs Gebirge – 
ein Rückenkurs danach muss trotzdem sein. Gemsenhaft hoppeln die Paare durchs Gebirge – ein Rückenkurs danach muss trotzdem sein. © iStock/AleksandarNakic
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Das Thema in unserer Praxiskolumne: Oft alleine, manchmal aber auch paarweise, pilgern die Leute zu mir, um den Reha-Sport verordnet zu bekommen.

Unsere gesetzlichen Krankenkassen haben viele Wohltaten zu bieten. Und jedes Jahr im Herbst, wenn die Blätter fallen, besinnen sich die Menschen darauf. Denn jetzt wollen sie natürlich für den strengen Winter vorsorgen. Eine dieser Wohltaten heißt Reha-Sport.

Oft alleine, manchmal aber auch paarweise, pilgern die Leute nun jakobswegartig zum Hausarzt, um diesen verordnet zu bekommen. Und eigentlich müsste ich als Doktor ja vor Freude in die Hände klatschen über solcherlei Bewegungsdrang, denn nichts anderes predige ich das ganze Jahr über. Das Problem ist nur, dass es bei denen, die da kommen, oft gar nichts zu rehabilitieren gibt.

Junge Menschen um die Vierzig wollen so einen Antrag ausgefüllt haben. Da muss ich dann doch mal fragen: „Weswegen? Was gibt es bei Ihnen zu rehabilitieren? Sie sind gesund! Warum können sie nicht in ein Fitnessstudio gehen?“ „Das kostet ja“, sagen die einen ganz ehrlich. „Da müsste man ja einen Vertrag unterschreiben“, mosern die anderen. Nahezu immer bekommt man zu hören: „Alle meine Kollegen kriegen Reha-Sport! Die sind in meinem Alter. Also steht mir das auch zu!“

„Dir wird schon was einfallen“, ertönt es wieder

Auch viele Ehepaare, oft im Vorruhestand, beehren mich mit diesem Wunsch. Reha-Sport gemeinsam mit dem vertrauten Partner – gibt es einen schöneren Ausdruck für Liebe? Von vielen weiß ich: Sie gönnen sich mehrmals Urlaub im Jahr. Das ist ja auch in Ordnung. Dafür haben sie ihr Leben lang gearbeitet und meist ganz gut verdient. Dann hoppeln sie irgendwo in weiter Ferne gemsenhaft durchs Gebirge, tanzen abends auf dem Traumschiff oder tauchen ab in der Karibik.

Ein Rückenkurs im Fitnessstudio, der muss trotzdem sein. Und den können sie sich eben nicht leisten. Warum auch? Dafür gibt es ihn ja schließlich: den Tanzfreund, den guten Bekannten und Hausarzt. „Jetzt kann der auch mal etwas für uns tun.“ Und so bekomme ich immer wieder An- und Aufträge unter dem Motto: „Dir wird schon was einfallen, was man da reinschreiben kann“ oder „Du weißt doch, dass ich immer mal wieder Rückenschmerzen habe“.

Manchmal stehe ich da und frage mich: Wie weit geht hier die Freundschaft? Muss ich als Hausarzt wirklich bedingungslos für meine Patienten da sein? Ist es nicht andererseits aber auch sehr löblich, wenn sie sich jetzt um regelmäßige Bewegung kümmern, bevor späteres Leiden sie zu Boden wirft? „Ausreichend und notwendig“, sagt das Sozialgesetzbuch. „Eher nicht ausreichend und auf jeden Fall notwendig“, sagt eine Stimme in mir. Also fülle ich den Wisch eben aus, in dem Wissen: Die knöcherne Degeneration beginnt schon sehr früh und bei nahezu jedem. Deshalb gilt: Gegensteuern! Und die Krankenkassen bestätigen das prompt und genehmigen alles.

„Haben Sie nicht das Gefühl, unser Sozialsystem auszunutzen?“

Wenn dann aber besagtes Ehepaar nach dem kassenverturnten Jahr mit dem eindringlichen Wunsch nach Verlängerung wieder bei mir aufschlägt und ich nun begründen soll, warum die beiden die erlernten Übungen nicht in Eigenregie ein paar Jahre zu Hause weiterführen können, platzt mir schon mal der Kragen: „Haben Sie nicht das Gefühl, unser Sozialsystem hier etwas auszunutzen?“ „Aber das bekommen doch alle von ihrem Hausarzt!“ höre ich die bekannte Melodie.

„Dir wird schon was einfallen“ ertönt es jetzt auch wieder von meinen Freunden. Gerade haben sie mir die letzten Urlaubsbilder ihrer Wandertour durch die Pyrenäen gezeigt. Nur um nun, da der Herbst beginnt, ins Siechtum zurückzukehren. Und dieses mit erneutem Reha-Sport zu bekämpfen. Manchmal denke ich mir nach so einem Tag beim Heimkommen; „So willst du nie werden“, ziehe mir die Turnschuhe an und fahre zum Zumba. Auf eigene Kos­ten. Gemeinsam mit meiner Frau. Na ja, gut – nicht nur aus Liebe. Sie ist die Trainerin.

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