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75 Jahre Nürnberger Ärzteprozess Wo steht die Aufarbeitung der NS-Zeit aktuell?

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

Die echte Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen begann erst Jahrzehnte nach den Prozessen, ab den 1980er-Jahren. Die echte Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen begann erst Jahrzehnte nach den Prozessen, ab den 1980er-Jahren. © WESTOCK ‒ stock.adobe.com
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Während der NS-Zeit begingen Ärzte Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie führten etwa grausame Medizinversuche in KZ durch oder unterstützten die Tötung von Menschen mit Behinderung. 1946 begann der Nürnberger Ärzteprozess gegen 23 Personen, 1947 folgten die Urteile. Welche Wirkung hat der Prozess bis heute? Der Medizin­historiker und Ethiker Prof. Dr. Andreas Frewer gibt Antwort.

Wie waren in der Ärzteschaft die Reaktionen auf den Nürnberger Ärzteprozess? War er ein Startpunkt für die umfassende Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen?

Prof. Frewer: Die zweite Frage möchte man allzu gerne mit einem vorbehaltlosen „Ja“ beantworten, leider war die historische Realität ganz anders. Die Ärzteschaft hat eine Gruppe von beobachtenden Personen nach Nürnberg zur Dokumentation gesandt. Deren Berichte und Publikationen – „Das Diktat der Menschenverachtung“, „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ und „Die Tötung der Geisteskranken“ – sind aber in ihrer grundlegenden Bedeutung zunächst leider wenig anerkannt worden. Es gab sogar Gerichtsverfahren wegen Verleumdung gegen in Nürnberg aktive Aufklärer. Die Kontinuitäten aus der NS-Zeit waren massiv, in diesen Reihen empfand man die frühe Aufarbeitung wohl als „Nestbeschmutzung“. 

Sieben Angeklagte des Ärzteprozesses wurden zum Tode verurteilt, sieben aber auch freigesprochen. Die neun zu teils langen Haftstrafen verurteilten Täter:innen waren oft nach wenigen Jahren wieder frei, der „Kalte Krieg“ zwischen den Blöcken hatte dabei eine besondere Wirkung. Die Legende, dass sich in der gesamten Ärzteschaft nur etwa 350 Personen bei Verbrechen schuldig gemacht haben, wurde sogar bis in die 1980er Jahre immer wieder ­angeführt. 

Der Startpunkt – besser: die Phase der sukzessiven Entwicklung – einer umfassenderen Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen begann eigentlich erst Jahrzehnte später; der Berliner Gesundheitstag 1980 hatte hier eine besondere Signalwirkung. Seitdem ist immer stärker geforscht und aufgedeckt, erinnert und reflektiert worden. Vorher gab es häufig Verdrängung oder Verharmlosung der begangenen „Crimes against humanity“ und der hohen Mitgliedschaftszahlen in den verbrecherischen NS-Organisationen wie der SS.

Wie ist der Stand der Aufarbeitung heute? 

Die NS-Zeit gehört in Deutschland zu den am besten und intensivsten bearbeiteten Phasen der Medizingeschichte. Tausende Bücher, Forschungsarbeiten, Dissertationen, Ausstellungskataloge und andere Fachpublikationen haben die Gebiete von Zwangsarbeit, Humanversuchen, „Euthanasie“, Zwangssterilisation oder auch das Unrecht gegen jüdische Kolleg:innen bei der Arisierung und Aberkennung der Doktorwürde u.v.m. aufgedeckt und beim Namen genannt. Mancherorts ist die Aufarbeitung leider etwas langsamer, etwa als Entschädigungsfragen im Kontext der Fremd- und Zwangsarbeit im Raum standen. Oder wenn sich Universitäten und Städte eingestehen mussten, dass die verübten Taten immer noch lebende Personen, Ehrenmitglieder von Fachorganisationen oder Ärztekammern, bzw. den Erhalt von Gebäuden betreffen.

Mittlerweile hat aber eine große Anzahl von medizinischen Fachgesellschaften die Zeit sehr genau aufgearbeitet, vergeben mehrere Institutionen wie etwa die Bundes­ärztekammer Preise zur Hervorhebung des wissenschaftlichen und medizinhistorischen Engagements. Die Fragen der Gedenk- und Erinnerungskultur nach dem Sterben der historischen Zeitzeug:innen sind aber für die Zukunft eine große Herausforderung. Viele Formen von Diskriminierung, Rassismus und zunehmender Antisemitismus oder auch Aggression gegen Flüchtlinge und Minderheiten zeigen zudem, dass die Lektionen der Geschichte leider keineswegs von allen gelernt wurden. Hier sind kontinuierliche Anstrengungen und nachhaltige Aufklärung notwendig.

Welche Lehren wurden aus dem Ärzteprozess gezogen?

Der Ärzteprozess mit dem „Nuremberg Code of Medical Ethics“ ist für manche Historiker:innen die „Geburtsstunde“ der Medizin- und Bioethik. Auch wenn es seit dem hippokratischen Eid in der Antike ethische Überlegungen zu gutem ärztlichem Handeln und auch andere Meilensteine gibt, sind doch die in der NS-Zeit verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine besondere Zäsur. Der Nürnberger Kodex hat sehr auf die Entwicklung der Forschungsethik und die „Declaration of Helsinki“ gewirkt, parallel wurde auch das „Genfer Gelöbnis“ des Weltärztebundes entwickelt und immer wieder an die neuen Herausforderungen angepasst. Das Gelöbnis ist Präambel der (Muster-)Berufsordnung für die deutsche Ärzteschaft – insofern sind die Auswirkungen der internationalen Tribunale nach Ende des Zweiten Weltkriegs kaum zu überschätzen.

Gibt es Situationen im Praxisalltag niedergelassener Mediziner, in denen Folgen des Nürnberger Ärzteprozesses noch heute spürbar sind?

In jeder ärztlichen Handlung ist die Zustimmung nach Aufklärung („informed consent“) die zentrale Voraussetzung für die Legitimität des Vorgehens. Mit der Verabschiedung des Nürnberger Kodex und den Lehren für Forschung wie auch Praxis sind die Ereignisse im Alltag niedergelassener Ärzt:innen täglich relevant. Indirekte Konsequenzen für eine Profession, die sich den Fragen von Medizin und Gewissen kritisch stellt, sind sicher ebenfalls vielfältig vorhanden, aber schwer messbar bzw. kaum quantifizierbar.

Teilweise wird kritisiert, die Aufklärung vor Studien werde trotz Nürnberger Kodex nicht gut umgesetzt. Sie gelte einigen Medizinern mehr als bürokratische Pflicht denn als ethische Selbstverständlichkeit. Zudem würden manche Patienten in dem Glauben belassen, es gehe bei einer Studie primär um ihre Gesundheit. Sehen Sie Optimierungsbedarf bei Aufklärung und Einwilligung?

Die Ärzteschaft ist eine sehr engagierte und beschäftigte Profession. Da bleibt in der Praxis wenig Zeit, jede Form der bürokratischen Arbeit ist daher nicht leicht und unbeliebt. Ich denke aber, dass die große Mehrheit schon weiß, dass diese Sorgfalt bei Studien eine sehr wichtige Voraussetzung für „Good Clinical Practice“ ist. Ethikkommissionen unterstützen und beraten die Forschungsprojekte, um die ethische Qualitätssicherung für neue Medikamente und Medizinprodukte zu gewährleisten. Patient:innen unter dem Vorwand, es ginge primär um deren eigene Gesundheit, in wissenschaftliche Studien einzuschleusen, die an erster Stelle oder eigentlich nur der Forschung dienen, ist ethisch hochbedenklich. Sicherlich gibt es im Einzelfall Grauzonen und das Problem, dass Kranke teils vergessen, wie genau sie eigentlich über das Vorgehen aufgeklärt worden sind. Viele machen sicher auch gerne und engagiert mit, ganz ohne Eigennutz, da sie dem ärztlichen Team vertrauen oder ganz altruistisch dem Fortschritt der Wissenschaft helfen möchten. Selbstverständlich muss dies immer sehr genau auf die Ziele und mögliche Interessenkonflikte wie auch Risiken oder Nebenwirkungen evaluiert werden.

Aus aktuellem Anlass: Derzeit werden Kriegsverbrechen in der Ukraine verübt. Trifft Ärzte eine besondere ethische Pflicht, dagegen einzutreten?

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung sind aus ethischer Sicht natürlich sehr zu kritisieren. Es ist schlimm, dass die Menschen in der Ukraine und wir alle diese schrecklichen Ereignisse mit allen Folgen im 21. Jahrhundert erleben müssen. Bei aller berechtigten moralischen Verurteilung sei jedoch darauf hingewiesen, dass ein Vergleich schwierig ist; diktatorische Rahmenbedingungen sind fatal, Ereignisse wie die „Euthanasie“, die grausamen Humanexperimente oder insbesondere der Holocaust der Nazis sind aber noch auf einer anderen Ebene einzuordnen. Ad hoc hat die Ärzteschaft heute die gleiche Verantwortung wie alle anderen Berufsgruppen in unserer Gesellschaft. Wegen der besonderen Kenntnis der Probleme und Folgen, etwa auch von Folter oder Kriegs­traumata, sind Ärzt:innen sicherlich in der Lage, die dramatischen Ereignisse in ihrer Langzeitwirkung noch besser abzuschätzen. 

Wie im Fall der „Ärzt:innen in sozialer Verantwortung“, der „International Physicians for the Prevention of Nuclear War“ (IPPNW) lehrt die Geschichte, dass Politik in gewisser Weise „Medizin im Großen“ darstellt, dass also mithilfe ärztlicher Expertise die Gesellschaft sensibilisiert und aufgerüttelt werden kann für die historischen wie auch die aktuellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 

Da die Ärzteschaft zu einer besonders begüterten wie auch engagierten Bevölkerungsgruppe gehört, könnte man den Einsatz für die Menschen in der Ukraine und die Flüchtlinge hier vor Ort sehr gut nachvollziehen. Da gibt es viele positive Beispiele, die von ganz besonderer sozialer Verantwortung zeugen und Vorbild für andere Berufsgruppen sein können. Eine noch bessere Integration verfolgter Personen und ärztlicher Kolleg:innen aus der Ukraine, Einrichtungen zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen oder Zentren für Folteropfer wären zusätzliche Möglichkeiten besonderen professionellen Engagements. Selbstverständlich helfen auch Spenden und persönlicher Einsatz für die Menschen vor Ort.

Medical-Tribune-Interview

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