
Schnittstelle CKD: Nephrologie – Geriatrie – Palliativmedizin

Im oft jahre- oder jahrzehntelangen Verlauf, währenddessen die Dialyse für viele Menschen mit CKD zum Alltag gehört, verändern sich mit zunehmendem Alter sowohl gesundheitliche als auch psychische Befindlichkeiten der Betroffenen. Nicht selten bedarf es dann einer geriatrischen und z. T. palliativmedizinischen Versorgung. „Das herausfordernde Dreieck Nephrologie – Geriatrie – Palliativmedizin“ thematisierte PD Dr. med. Linus Völker, Köln, im Rahmen des Berliner Dialyseseminars 2024.
Spannungsfeld Nephrologie – Geriatrie − Palliativmedizin
Der Übergang älter werdender Patientinnen und Patienten von der „routinemäßigen“ medizinischen Betreuung in die sog. Altersmedizin ist eine große Herausforderung. Sie werden multimorbider, zunehmend gebrechlicher und haben andere Bedarfe als jüngere Menschen. Um richtige, dem Patientenwohl dienliche Entscheidungen zu treffen sind mehrere Voraussetzungen unabdingbar, erklärte Völker:
- die Identifikation der Personen mit geriatrischem und/ oder palliativmedizinischem Bedarf
- eine professionelle Kommunikation mit dem Patienten/ den Angehörigen ebenso wie die
- die Vernetzung der Behandler verschiedener Fachrichtungen und Sektoren des Gesundheitssystems
Die Nephrologie ist hierbei besonders gefordert, da etwa 30 − 50 % aller betagten Menschen eine Nierenfunktionseinschränkung haben. Die Ärztinnen und Ärzte müssen zudem berücksichtigen, dass nephrologische Patienten diejenigen mit den meisten Komorbiditäten, den meisten Medikationen, dem höchsten Risiko für Heimpflege und auch dem höchsten Mortalitätsrisiko sind [1]. Dabei stellen sich diverse Fragen, beispielsweise wann eine geriatrische Versorgung angezeigt ist, nach der Sinnhaftigkeit einer Nierenersatztherapie und dem Bedarf einer palliativmedizinischen Betreuung, wobei sich die einzelnen Disziplinen überlappen und die Übergänge fließend sind.
Wichtig sei deshalb, interdisziplinär nach einem integrierten Versorgungskonzept zu agieren − mit einer gemeinsamen Therapiezielfindung unter Berücksichtigung des Zustands und der Wünsche der einzelnen Patienten. Letztlich geht es in dieser Klientel darum, den besten Weg zu finden, um den funktionellen Nierenstatus zu erhalten, eine gute Lebensqualität zu gewährleisten und das Leben zu verlängern – das müsse nicht zwangsläufig die Einleitung einer Dialysebehandlung oder eine Transplantation sein, erläuterte Völker. Wie die Autoren einer bereits 2009 hochrangig im NEJM publizierten Arbeit zeigten, konnten durch Einleitung einer Dialysebehandlung bei hochbetagten Pflegeheimbewohnern die Ziele funktioneller Statuserhalt und Lebensverlängerung nicht erreicht werden. Dieses Ergebnis wurde in einer nachfolgenden Analyse 2024 [2] im Wesentlichen bestätigt und veranlasste „sogar die altehrwürdige New York Times“ zu einem Editorial: „The new old Age – Dialysis May Prolong Life for Older Patients. But Not by Much. In one recent study, the challenging regimen addet 77 days of life after three years. Often, kidney diseases can be managed in other ways.“
Also gehören auch Conservative Care und ggf. Dialyseabbruch (s. a. Interview S. 10 mit Dr. Pfrang) zum holistischen Ansatz einer integrierten Versorgung. Es gehe immer um eine höchst individuelle Entscheidung, betonte Völker.
Das Geriatrische Assessment
Wie Symptomkontrolle und Therapieziele am besten erreicht werden können, hängt wesentlich vom Geriatrischen Assessment, d. h. der Bewertung der körperlichen Gesundheit sowie der psychosozialen und funktionellen Fähigkeiten eines Patienten in der Geriatrie, ab. Im Idealfall ist die Beurteilung des Gesundheitszustands ein mehrdimensionaler, interdisziplinär betreuter Prozess [3] unter Einbeziehung des/der jeweils Betroffenen. In der Beratung sollten anhand der nephrologischen Prognose entsprechende Entscheidungen getroffen werden. Dafür empfiehlt die European Renal Best Practice Group 2017 den REINS-Score, der die 3-Monats-Mortalität nach Dialyseeinleitung stratifizieren kann, den Bansal-Score, der die 5-Jahres-Mortalität ohne Dialyseeinleitung beschreibt und die Kidney Failure Risk Equation (KFRE), die nach zwei und fünf Jahren die Wahrscheinlichkeit eines terminalen Nierenversagens von Patienten mit CKD Stadium 2-5 beschreibt. Hierbei werden die typischen Kriterien Geschlecht, Alter, Ethnie, chronische Grunderkrankung ebenso berücksichtigt, wie auch – und hier kommt die Geriatrie ins Spiel – mentale und psychische Störungen, Mobilitätseinschränkungen und Hypalbuminurie bis hin zum sozialen Umfeld der Patienten. Auf dieser Grundlage kann die multiprofessionelle Therapie geplant und überprüft werden. Das Ziel dieser geriatrischen Behandlung ist, das bisherige Niveau an Autonomie zu erhalten oder wiederherzustellen, indem neben der akutmedizinischen Versorgung die multifaktoriell bedingten geriatrischen Syndrome holistisch behandelt werden.

Geriatrische Patienten identifizieren
Geriater, so grenzt Völker die Klientel ein, behandeln im Allgemeinen Menschen ab dem 80. Lebensjahr, aber unter bestimmten Bedingungen können auch schon ±65-Jährige dazu zählen. Üblicherweise sind dies Patienten, die mehrere Medikamente einnehmen, mehrere chronische Krankheiten mit Einschränkungen der Alltagsfähigkeit und typische altersbedingte gesteigerte Vulnerabilität haben. Dementsprechend ist in der kürzlich erschienenen S3-Leitlinie (AWMF) „Umfassendes Geriatrisches Assessment CGA bei hospitalisierten Patientinnen und Patienten“ [4] diese Stratifizierung verankert. Sie gibt Empfehlungen für verschiedene Settings. Gleichzeitig haben sich die Autoren auch strukturell Gedanken darüber gemacht, wie man mit älteren Patienten umgeht, den geriatrischen Bedarf erfasst und weiter vorgeht. Dazu gibt es in der Leitlinie einen übersichtlichen Entscheidungsalgorithmus.
Mit präziser Identifikation geriatrischer Funktionsdefizite und Ressourcen durch Überführung in ein Comprehensive Geriatric Assessment (CGA), so erklärte Völker weiter, könne unter Berücksichtigung von Lebensqualität und Lebenserwartung die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass die Patienten nach 12 Monaten noch zuhause leben [4]. Dabei sei die geriatrische Prognose weniger durch organspezifische Erkrankungen als vielmehr durch das Gesamtkonstrukt der geriatrischen Morbidität, dem Frailty-Syndrom determiniert.
Zur Identifikation von geriatrischem und auch palliativmedizinischem Bedarf sowie zur Prognoseeinschätzung, Therapiesteuerung und Gesprächsführung sollten entsprechende Tools und Prognosescores genutzt werden, rät Völker. Man kann z. B. anhand des multidimensionalen Prognostic Index (MPI), unter Ausschöpfung aller Dimensionen des CGA eine Prognose abgeben, die in vielen Settings und Varianten validiert ist, auch bei CKD-Patienten. Man erhält einen prognostischen Index zwischen 0 und 1, der eine Stratifizierung ermöglicht, die sehr gut mit Mortalität, Heimaufnahme und Komplikationen korreliert. Es ist eine hilfreiche Möglichkeit, die Versorgung der Patienten zu verbessern, resümierte der Kölner Experte.
Die Brücke zur Palliativmedizin
Multimorbide, gebrechliche CKD-Patienten haben oft nicht nur einen geriatrischen, sondern in vielen Fällen auch palliativmedizinischen Bedarf. Dabei gehe es, entgegen der weit verbreiteten Meinung, keineswegs nur um „End of Life Care“ oder die Begleitung im akuten Sterbeprozess, betonte der Referent. In dem Maße, wie kurative Ansätze oder lebensverlängernde Maßnahmen in den Hintergrund treten, tritt die Symptombehandlung und der Erhalt der Lebensqualität in den Vordergrund. Palliativmedizinische Maßnahmen sollten parallel, nach Ermittlung des individuellen pallitivmedizinischen Bedarfs schon frühzeitig mit in die Behandlung der Patienten einbezogen werden.
Auch dafür empfiehlt Völker die Verwendung entsprechender Tools und z. T. für Nierenkranke adaptierter Versionen von Outcomescales oder Dokumentationssystemen wie die Integrated Palliative Care Outcome Scale (IPOS resp. IPOS renal), das Minimale Dokumentationssystem zu belastenden Symptomen (Fragebogen mit 10 Kategorien, MIDOS) und ein Klinisches Tool zur Identifikation von Patienten mit palliativmedizinischem Bedarf (SPICT).
Neben der auch im palliativmedizinischen Bereich bestehenden Notwendigkeit von Fort- und Weiterbildung hob Völker die Notwendigkeit der Kenntnis palliativmedizinischer Strukturen hervor, um den Patienten die Versorgung zukommen zu lassen, die sie benötigen. (s. a. Leitlinienprogramm Onkologie) [6].
Ebenso könne die Schaffung von Support-Systemen für das sog. Advance Care Planning (Leitfäden, SOPs, DiGa) dazu beitragen, die Versorgung nach Patientenwünschen auszurichten und die Zufriedenheit mit der Behandlung und Entscheidungsfindungsprozessen im nephrologischen, geriatrischen und palliativmedizinischen Setting zu verbessern. Zu diesem vorausschauenden Planen gehöre vor allem, die Patienten und Patientinnen mit ihren persönlichen Werten, Einstellungen und Präferenzen in diese Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Auch multimorbide hoch betagte Patienten „haben in den wenigsten Fällen eine paternalistische Vorstellung der ärztlichen Rolle und wollen keine passive Rolle spielen, sondern ganz im Gegenteil, sie wollen eher eine kollaborative oder sogar aktive Rolle in medizinischen Entscheidungsprozessen übernehmen“, weiß Völker aus seiner Erfahrung und verweist auf die wissenschaftliche Literatur zum Thema. Ganz wichtig sei auch, Verständnis dafür zu entwickeln, was der einzelne Patient/die Patientin will. Es ist belegt, dass das Wissen um den Patientenwunsch einerseits die spontane Entscheidungsfähigkeit des Behandlers in Akutsituationen verbessert. Andererseits tragen vorausschauendes Planen und systematisch geführte Gespräche nicht nur zur Verbesserung der Lebensqualität bei, sondern es werden auch Angst, Stress und Trauer bei den Patienten und deren Angehörigen reduziert.

Handlungsbedarf im geriatrischen Bereich
Es gibt für die geriatrische Versorgung viele neue Forschungsergebnisse, Behandlungsansätze, Assessment-Tools etc. Gleichzeitig weist Dr. Völker auf noch bestehende Defizite im Spannungsfeld Nephrologie/Geriatrie/Palliativmedizin und Versorgungslücken hin. So gebe es z. B. noch Implementationshürden in der Geriatrie und Palliativmedizin, die insbesondere Dialysepatienten betreffen. Sie seien oft kategorisch von einer geriatrischen/palliativmedizinischen Behandlung ausgeschlossen, weil entsprechende flächendeckende Strukturen zur Versorgung von CKD-Patienten fehlen. Das gleiche gelte für Organtransplantierte, bei denen sich die Kolleginnen und Kollegen nicht sicher fühlen, oder auch wenn teure Therapien oder Chemotherapien verabreicht werden müssen. Vor diesem Hintergrund verwies Völker auf die Notwendigkeit systematischer Fort- und Weiterbildung im geriatrischen und palliativmedizinischen Bereich, wofür allerdings auch entsprechende Inhalte in den Curricula fehlen.
Last but not least beklagt Völker Mängel bei der Abrechnungsfähigkeit in der palliativmedizinischen und geriatrischen Versorgung: „Das ist aufwändig, es braucht Zeit, und daran fehlt es.“
Im herausfordernden Spannungsfeld Nephrologie – Geriatrie – Palliativmedizin gibt es noch viel zu tun. Unter anderen kümmern sich die Arbeitsgruppe Nephrologie in der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und die Kommission Altersmedizin der DGfN wie auch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin um diese Belange. Aber auch einzelne Forschungsprojekte widmen sich diesem Thema, um die Versorgungslücken bei CKD- und ESRD-Patienten zu schließen: Beispielsweise wurde im Palliativzentrum der Universität Köln das MINI-Neph-Projekt konzipiert. Ziel ist, die personenzentrierte Versorgung von Patient:innen mit akuter Nierenfunktionseinschränkung (AKI), chronischer Nierenkrankheit (CKD) und terminalem Nierenversagen (ESRD) durch frühzeitiges Erkennen eines palliativen Behandlungsbedarfs zu stärken. Es gilt, Informationsdefizite und persönliche Hemmschwellen in der Kommunikation zu überwinden, eine interdisziplinäre Versorgung zu fördern und so die weitere Versorgung proaktiv gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen zu gestalten. Das Projekt richtet sich an nephrologische Praxen im deutschsprachigen Raum und soll sicheren Umgang mit palliativmedizinischen Inhalten fördern. In dem Projekt soll die zweiseitige (d. h. auf Leistungserbringer und Patienten bezogene) minimal-invasive Intervention (MINI) in nephrologischen Facharztpraxen implementiert werden, um deutlich früher im Krankheitsverlauf eine palliative Mitbetreuung zu initiieren (Kontakt: palliativzentrum- mini-neph@uk-koeln.de).
Quelle: Vortrag von PD Dr. Linus Völker, Köln, „Das herausfordernde Dreieck Nephrologie – Geriatrie – Palliativmedizin“ im Rahmen des Berliner Dialyseseminars 2024 am 7.12.2024.
Literatur
1. Tonelli et al. 2018 AMA Netw Open 2018 Nov 2;1(7):e184852. DOI: 10.1001/jamanetworkopen. 2018.4852
2. Montez-Rath et al. Ann Int Med 2024
3. flexikon.doccheck.com/de/Geriatrisches_ Assessment
4. www.awmf.org/service/awmf-aktuell/ umfassendes-geriatrisches-assessment-comprehensive- geriatric-assessment-cga-bei-hospitalisierten- patientinnen-und-patienten
5. Ellis G et al. Cochrane Database Syst Rev 2011 Jul 6:(7):CD006211. DOI: 10.1002/14651858. CD006211.pub2
6. Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF: Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung, Langversion 2.2, 2020, AWMF-Registernummer: 128/001OL, www.leitlinienprogrammonkologie. de/leitlinien/palliativmedizin/
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