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Gesundheitskiosk als Konkurrenz Niedergelassene wollen Sozialberatung in Praxen anbieten

Niederlassung und Kooperation Autor: Isabel Aulehla

In einem „Spaziertandem“ gehen ältere Menschen, die allein nicht nach draußen möchten, mit Ehrenamtlichen spazieren. In einem „Spaziertandem“ gehen ältere Menschen, die allein nicht nach draußen möchten, mit Ehrenamtlichen spazieren. © Simon Kraus – stock.adobe.com
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Viele Hausärzte lehnen die von Karl Lauterbach geplanten Gesundheitskioske ab. Stattdessen könnten Sozialarbeiter direkt in den Praxen eine Beratung anbieten, schlagen einige Niedergelassene vor. 

In hausärztlichen Sprechstunden geht es oft um weit mehr als nur medizinische Belange. Manche Patienten erzählen von Problemen mit ihrem Vermieter, andere bitten um Hilfe beim Rentenantrag. Selbst wenn Mediziner gerne helfen würden – sozialrechtliche Fragen übersteigen ihre Kompetenz und binden Kapazitäten, die für andere Patienten fehlen. Prinzipiell würden viele Haus­ärzte es daher begrüßen, wenn medizinische Versorgung und soziale Beratungsangebote besser verzahnt wären. 

Auch der Bundesgesundheitsminister hat die Versorgungslücke erkannt. Er möchte sie allerdings mit einem Konzept füllen, das in der Ärzteschaft auf breite Kritik stößt: Rund 1.000 „Gesundheitskioske“ sollen künftig in sozialen Brennpunkten entstehen und neben einer medizinisch-pflegerischen Basisversorgung auch eine Sozialberatung anbieten.  

Nutzen von Gesundheitskiosken bei Kassen strittig

Die Ersatzkassen sehen Gesundheitskioske kritisch. Sie zogen sich im September aus der Finanzierung eines Modellprojekts in Hamburg zurück. Die Beratungsleistung stehe in keinem Verhältnis zu den Kosten, argumentierten sie. Zudem würden die Aufgaben des Kiosks in den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge fallen. Die AOK Rheinland/Hamburg unterstützt das Projekt hingegen weiterhin – das Leistungsspektrum sei angesichts der nun geringeren finanziellen Mittel jedoch nicht in gleicher Form aufrechtzuerhalten. Die Gefahr einer medizinischen  Doppelstruktur sieht die Kasse nicht. Die Kioske seien darauf ausgerichtet, mit allen Akteuren im Versorgungsraum gut zusammenzuarbeiten. Es sei verkehrt, auch im Hinblick auf zum Teil akademisch qualifiziertes nicht-ärztliches Personal Kooperationsangebote für die Zukunft kategorisch auszuschließen.

Wettbewerb um Fachkräfte könnte sich verschärfen

Viele Hausärzte befürchten eine unkoordinierte Parallelstruktur zu ihrem Praxisbetrieb. Sie lehnen es ab, dass in den Kiosken auch medizinische Routinetätigkeiten wie Blutdruck- oder Blutzuckermessungen durchgeführt werden sollen. Sie könnten schnell den Überblick darüber verlieren, wer bereits welche Leis­tung erhalten hat. Davon abgesehen würden die Kioske den Kampf um das ohnehin schon knappe nicht-ärztliche Fachpersonal befeuern. Auch die Ersatzkassen stehen dem Konzept skeptisch gegenüber. Aus einem Modellprojekt im Hamburger Stadtteil Billsted zogen sie sich im September zurück.

In einem anderen Stadtteil Hamburgs, in St. Pauli, hat die Hausärztin Dr. Jana Husemann eine Alternative zu den Kiosken ersonnen: Die Kommunen könnten regional Sozialarbeiter bereitstellen, die regelmäßig Sprechstunden in den Praxen anbieten, schlägt sie vor. Bestehe bei Patienten ein Bedarf an Sozialberatung, könnte das Praxisteam einen Termin vergeben. In der vertrauten Umgebung wäre es für die Patienten leichter, die Beratung wahrzunehmen, argumentiert Dr. Husemann. Bislang versuche sie, betreffende Patienten an eine soziale Hilfestelle weiterzuleiten, die nur wenige hundert Meter von der Praxis entfernt sei. Doch nur wenige würden den Tipp befolgen. 

Die Kosten sollen die Kommunen tragen. Der Deutsche Hausärzteverband begrüßt die Idee: Die Delegiertenversammlung forderte den Gesetzgeber im September zur Umsetzung des Vorschlags auf.  

In Dortmund setzt der Hausarzt Lars Rettstadt dieses Konzept bereits um – für Personen, die eine Drogenersatztherapie machen. Auch sie bringen in der Sprechstunde Anliegen hervor, die die ärztliche Kompetenz übersteigen. Etwa, wenn bei ihnen der Strom abgestellt wurde oder es Probleme mit dem Jobcenter gab. Hausärzte seien gerade für viele ältere Menschen die ersten Ansprechpartner in allen Belangen, gibt der Mediziner zu bedenken. Er kooperiert daher mit einem Sozialarbeiter, der einmal in der Woche eine Sprechstunde in der Praxis anbietet. Die Finanzierung erfolgt durch einen Verein, zu dem sich die substituierenden Mediziner Dortmunds zusammengeschlossen haben. Vier Fachkräfte bieten über die Praxen verteilt soziale Beratungen an.

Koordination nicht-ärztlicher Leistungen soll bei Arzt liegen

Die Patienten nehmen das Angebot dankbar an, berichtet Rettstadt. Er beobachtet, dass die Beratung zu ihrer Stabilisierung beiträgt und ihre Compliance erhöht. Zudem schätzt er es, dass er sich bei Bedarf auf dem kurzen Weg mit dem Sozialarbeiter über die Situation eines Patienten austauschen kann. Er könnte es sich gut vorstellen, seine Praxis weiter mit sozialen und nicht-ärztlichen Angeboten zu vernetzen, beispielsweise auch mit Physio- oder Ergotherapeuten. „Ich würde mich freuen, wenn wir durch solche Angebote in unseren Praxen noch intensiver auf die sozialen Probleme unserer Patienten eingehen könnten“, betont er. Voraussetzung sei aber, dass die Koordination dieser Angebote dann bei den Praxisleitungen liege. 

Das Konzept der Gesundheitskioske sieht Rettstadt kritisch. Es sei sinnvoller, existierende Angebote besser zu verknüpfen, als dauernd neue Strukturen zu schaffen, meint er. Heilberufliche Tätigkeiten sollten Ärzten vorbehalten bleiben.

Berliner Erfolgsmodell als Blaupause

In einigen Praxen des Berliner Stadtteils Lichtenberg existiert schon seit neun Jahren eine Sozialberatung. Das Angebot stößt auf großes Interesse – bereits im ersten Jahr fanden über 600 Beratungen statt. Dabei wurde die Idee aus der Not heraus geboren: Die über 70-jährige Hausärztin Dr. Annelies Roloff fand keinen Nachfolger für ihre Praxis, wollte ihre Patienten jedoch auch nicht „auf die Straße“ setzen. Sie führte den Betrieb fort, während sie nach Möglichkeiten der Entlastung suchte. Ihre Schwiegerenkelin, die das Fach „soziale Arbeit“ im Master studierte, schlug vor, die sozialrechtlichen Anliegen der Patienten an eine kompetente Beratung weiterzuleiten. Die beiden gründeten den Verein „soziale Gesundheit“. Er koordiniert mittlerweile die Zusammenarbeit von zwei Sozialarbeiterinnen mit 18 Ärzten. 

Einmal pro Woche findet in acht der Praxen eine zweistündige soziale Sprechstunde in eigenen Räumen statt. Die übrigen Praxen vermitteln Interessenten an die Beraterinnen, die dann Hausbesuche machen. Das Spektrum der Hilfsmaßnahmen ist vielfältig: Vereinsamte Senioren werden beispielsweise in Spaziergruppen vermittelt oder besuchen gemeinsam kulturelle Veranstaltungen. Bei jüngeren Patienten geht es oft um die Suche nach einem Kitaplatz oder um Hilfe im Umgang mit einem Schreikind.

Besonders effektiv ist die Beratung bei Angelegenheiten der Sozialversicherung. Ob Anerkennung eines Pflegegrads, Widerspruchsschreiben für die Krankenkasse oder Genehmigungsverfahren für Hilfsmittel: Die Sozialberater sind gerade dort wertvoll, wo es der Einzelne schwer hat. „Wenn sich eine Institution dahinter hängt, klappt es einfach“, berichtet Dr. Martyna Voß, die sich unter anderem um die Öffentlichkeitsarbeit des Vereins kümmert. 

Über die Schritte, die die Patienten mithilfe der Beratung gehen,  bleiben die Mediziner auf dem Laufenden. Ein systematisches Care- und Case-Management garantiert die Dokumentation. So wird zu Beginn ein Interventionsplan erstellt, auf den nach bis zu sechs Monaten ein Endbericht folgt. Wird ein Patient palliativ begleitet, kann der Prozess auch länger dauern. 

Der Verein hofft, das Angebot künftig weiter ausdehnen zu können. Vier Hausarztpraxen stehen bereits auf der Warteliste. Dr. Voß freut sich, dass die Idee nun in der Ärzteschaft wahrgenommen wird. Sie selbst bringt das Konzept in zwei Arbeitsgruppen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin ein und beobachtet ein reges Interesse.

Aus ersten KV-Bezirken kommen positive Signale

Berufspolitisch stößt die Idee der praxisinternen Sozialarbeit auf Interesse. Von der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg kämen bereits positive Signale, berichtet Dr. Husemann. Auch in Berlin, wo ein solches Modell bereits von 14 Hausärztinnen und Hausärzten umgesetzt wird, seien die Rückmeldungen gut. Wenn das Konzept in den Regionen insgesamt für tauglich befunden wurde, werde man es auch auf Bundesebene einbringen. 

Medical-Tribune-Bericht

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