Krank, aber nicht versichert Aus dem Alltag eines Obdachlosenarztes

Praxismanagement , Patientenmanagement Autor: Tobias Stolzenberg

Die Patientinnen und Patienten sind so unterschiedlich wie ihre Lebenswege. Viele erlebten einen Schicksalsschlag in der Vergangenheit. Die Patientinnen und Patienten sind so unterschiedlich wie ihre Lebenswege. Viele erlebten einen Schicksalsschlag in der Vergangenheit. © Maxim Chuev – stock.adobe.com

Wer hilft, wenn Menschen keine Wohnung, keine Papiere, keine Krankenversicherung haben - aber dringend eine Ärztin oder einen Arzt brauchen? Eine Podcastfolge zum Thema Straßen - und Obdachlosenmedizin.

Was macht jemand, der krank ist, aber keine Wohnung und keine Krankenversicherung hat? Wer hilft, wenn man aus dem Gesundheitssystem herausfällt? In der aktuellen Folge von O-Ton Allgemeinmedizin geht es um Straßenmedizin, eine Ambulanz ohne Grenzen und um „Housing First“.

Laut Statistischem Bundesamt leben in Deutschland aktuell rund 470.000 wohnungslose Menschen. Doch tatsächlich dürften es weitaus mehr sein, denn die Dunkelziffer ist hoch. Viele Betroffene haben einst ein geregeltes Leben geführt – bis ein Schicksalsschlag, eine Suchterkrankung oder eine Insolvenz den Absturz brachte. Was den Menschen dann bleibt, ist häufig ein Leben ohne Wohnung, ohne Krankenversicherung, ohne medizinische Versorgung.

Einer, der in solchen Fällen Hilfe anbietet, ist der Internist Dr. Sebastian Schink vom Verein Armut und Gesundheit in Deutschland, kurz a+G. In der aktuellen Folge von O-Ton Allgemeinmedizin berichtet er von den Anfängen des gemeinnützigen Vereins und erzählt, wie er zu a+G und zur Straßenmedizin kam.

Die Ursprünge des Vereins gehen auf Prof. Gerhard Trabert zurück. „Er hat damals in den 1990er-Jahren erkannt, dass wohnungslose Menschen oft keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben“, erzählt Dr. Schink. Daraufhin habe der Sozialmediziner angefangen, mit einem Arztkoffer Menschen in der Mainzer Innenstadt aufzusuchen, sie anzusprechen und ihnen medizinische Hilfe anzubieten.

„Prof. Trabert hat schnell festgestellt, dass der geschützte Raum fehlt, um zum Beispiel mal einen Verband zu wechseln oder um ein Gespräch ohne Zuhörer führen zu können.“ Daraufhin hat er einen Transporter zum Arztmobil umbauen lassen – das Mainzer Modell war geboren.

Kostenlose Sprechstunden in der Mainzer Innenstadt

Inzwischen umfasst der Verein mehr als 600 Mitglieder. Dreißig Festangestellte arbeiten in den verschiedenen Projekten von a+G, hinzu kommt das Engagement unzähliger ehrenamtlicher Helfer. So werden in der „Ambulanz ohne Grenzen“ auf der zentral gelegenen Mainzer Zitadelle kostenlose Facharztsprechstunden angeboten. Parallel dazu fährt das Arztmobil regelmäßig die Mainzer Straßen und Plätze ab, besetzt mit Ärztinnen und Ärzten, Pflegepersonal, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern.

„Wir haben ungefähr 2.500 Arzt-Patienten-Kontakte pro Jahr in der Ambulanz und noch einmal 1.500 über das Arztmobil“, berichtet Dr. Schink. Dabei sind die Patientinnen und Patienten so unterschiedlich wie ihre Lebenswege bzw. die Geschichten, die sie mitbringen. Manche sind ehemalige Privatversicherte, die durch Insolvenz alles verloren haben. Andere stammen aus dem Ausland, verletzten sich in Deutschland und können weder zurückreisen noch auf eine Versicherung zurückgreifen. Hinzu kommen Menschen ohne Papiere, die aus Angst vor Abschiebung oder Repressalien Behörden und medizinische Hilfe meiden.

Behandelt wird das gesamte Spektrum der Allgemeinmedizin: Herz- und Lungenkrankheiten, Diabetes, Verletzungen. Überdurchschnittlich häufig habe man es als Straßenmediziner mit psychischen Störungen zu tun, Abhängigkeitserkrankungen und deren Folgen, Mangelernährung, im Winter auch mit Erfrierungen. „Wir haben Menschen, die sehr lange gewartet haben, bis sie zum Arzt gehen“, beschreibt Dr. Schink die Situation.

Für viele Betroffene wäre eine stabile Wohnsituation die Voraussetzung dafür, um langfristig medizinisch versorgt werden zu können. „Wir versuchen als erstes, eine sichere Wohnsituation zu organisieren, um dann kontinuierlich mit den Menschen arbeiten zu können“, erläutert Dr. Schink das Prinzip des sogenannten Housing First.

Beratungsstellen können Versicherungsanspruch prüfen

Zentrales Problem bleibt die fehlende Krankenversicherung. Zwar müssen Notfälle in deutschen Kliniken immer behandelt werden. Doch elektive Eingriffe sind für Unversicherte kaum möglich. Hilfe bieten Clearingstellen, bei denen geprüft wird, ob nicht doch noch Versicherungsansprüche bestehen oder reaktiviert werden können. Beratungsstellen und Kooperationen mit Arztpraxen helfen Dr. Schink und seinen Kolleginnen und Kollegen bei a+G dabei, Betroffene langfristig wieder in die Regelversorgung zu bringen.

Die Arbeit in der Straßenmedizin ist anspruchsvoll, oft emotional belastend. Doch für Dr. Schink überwiegen die positiven Momente: „Ich kann durch mein eigenes Handeln einem einzelnen Menschen sehr viel Gutes tun, in einem für mich überschaubaren Rahmen.“ Es sind die kleinen Gesten der Dankbarkeit, die ihn tief berühren. Das können die Christstollen sein, die ein ehemaliger Patient jedes Jahr in der Adventszeit vorbeibringt, aber auch ein dankbarer Händedruck.

Trotz aller Erfolge bleibt viel zu tun. Dr. Schink nennt drei zentrale Wünsche: mehr politische Unterstützung bei der Versorgung unversicherter Menschen, die konsequente Umsetzung von Housing First – und langfristig gesellschaftliche Strukturen, die a+G eigentlich überflüssig machen würden. „Da das aber in absehbarer Zeit nicht passieren wird, wird es den Verein weiter geben. Und da freue ich mich natürlich, dass wir so viele sehr engagierte Menschen haben.“ 

Quelle: Medical-Tribune-Bericht

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