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Psychisch krank in die Obdachlosigkeit

Autor: Friederike Klein

Seit Jahren steigt hierzulande die Zahl wohnungsloser Menschen. Einen Teil der Schuld trägt die Politik. Seit Jahren steigt hierzulande die Zahl wohnungsloser Menschen. Einen Teil der Schuld trägt die Politik. © iStock.com/justhavealook
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Auch psychisch Kranke haben ein Recht darauf, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben – so sieht es die Behindertenrechtskonvention vor. Die Realität sieht jedoch oft ganz anders aus. Viele Betroffene verlieren ihre Wohnung, werden obdachlos. Durch frühe Interventionen könnte man das verhindern.

Offizielle Obdachlosenstatistiken gibt es nicht. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) wachsen die Zahlen seit 2008 kontinuierlich und wurden in den letzten Jahren durch wohnungslose Flüchtlinge noch einmal gepusht. Auch der Anteil an EU-Binnenzuwanderern ist unter den Wohnungslosen hoch, der deutscher Mitbürger steigt. Für dieses Jahr prognostiziert die BAGW einen Zuwachs obdachloser Menschen auf bis zu 1,2 Millionen, berichtete Dr. Stephanie Schreiter von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin.

Die Politik habe versagt, der Bestand belegungsgebundener Sozialwohnungen sei von 1990–2016 um 60 % gesunken, kritisierte sie. Besonders oft von Wohnungslosigkeit betroffen sind stationär behandelte Psychiatriepatienten, wie eine Studie im Berliner St. Hedwig-Krankenhaus zeigte.

Im Schnitt seit sechs Jahren auf der Straße

Nur 60 % der Befragten lebten in den eigenen vier Wänden, 16 % wohnten in therapeutischen Einrichtungen und 12 % bei Freunden oder Verwandten. Fast ebenso viele (11,5 %) hatten überhaupt kein Dach über dem Kopf – und das im Mittel bereits seit sechs Jahren, betonte Dr. Stefan Gutwinski, Psychiater am St. Hedwig. Die Mehrheit (88 %) der Patienten gab ihre psychische Erkrankung als Hauptursache für den Verlust der Wohnung an.

Betrachtet man die Gruppe der Obdachlosen in Deutschland, so findet man tatsächlich häufig psychisch Kranke. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung liegen die Prävalenzen von Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Persönlichkeitsstörungen sowie psychotischen Erkrankungen deutlich höher.

Dies bestätigt auch Professor Dr. Josef Bäuml vom Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München. Er stellte die Ergebnisse aus „SEEWOLF“* vor, einer der bis dato größten Studien zum Thema Wohnungslosigkeit. Teil nahmen 232 zufällig ausgewählte Personen aus Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe München, aus Notunterkünften und Pensionen der Stadt.

Jeder darf über den Wohnort selbst entscheiden

2007 unterzeichnete Deutschland die Behindertenrechtskonvention der Europäischen Union. Damit bekannte man sich zu dem Ziel, die Rechte von Menschen mit und ohne Behinderungen gleichzustellen und Benachteiligte zu schützen. Artikel 19 sieht vor, dass 
  • a. Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen. Sie dürfen nicht dazu verpflichtet werden, in besonderen Wohnformen zu leben.
  • b. Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten erhalten, zu Hause oder in Einrichtungen. Darin eingeschlossen ist eine persönliche Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und zur Verhinderung von Isolation notwendig ist.
  • c. gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen der Allgemeinheit auch Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen.

Quelle: Behindertenrechtskonvention

Von den Befragten gaben 86 % an, schon einmal unter einer psychischen Störung gelitten zu haben, 52 % waren deswegen bereits behandelt worden. Zum Stichtag der Erhebung wies etwa die Hälfte ein Suchtproblem auf. Harte Drogen spielten allerdings kaum eine Rolle, so Prof. Bäuml. Alkohol sei günstig und einfach zu erhalten, viele dürften ihn eher kompensatorisch gegen eine nicht ausreichend behandelte Störung einsetzen. 55 % der Teilnehmer litten unter einer Persönlichkeitsstörung. „Das sind wirklich Seewölfe“, meinte der Kollege. Entsprechend unzufrieden zeigten sich diese mit den Gemeinschaftsräumen und sie gerieten mehrfach mit anderen Bewohnern aneinander. Insgesamt aber waren sie mit der Unterstützung der Wohnungslosenhilfe zufrieden. Es fiel auf, dass bei zwei Dritteln der Befragten das psychische Leiden schon bestanden hatte, bevor sie ihr Dach über dem Kopf verloren. Im Mittel 6,5 Jahre vorher.

Bayern hat schon auf SEEWOLF reagiert

„Es ist unser Job, ihnen so zu helfen, dass sie nicht auf der Straße landen“, konstatierte Prof. Bäuml. Um nicht frühzeitig abgehängt zu werden, braucht es deshalb präventive und fördernde Maßnahmen – und zwar von klein auf. Er forderte:
  • Prävention, frühe Spezialförderung und Unterstützung für Risikofamilien
  • ausreichend lange psychiatrische Behandlungen, auch von komplizierten Patienten
  • Kooperation von Wohnungslosen- und Psychosozialhilfe, Kinder- und Jugend- sowie der Erwachsenenpsychiatrie
Erste Reaktionen auf die SEEWOLF-Studie gab es bereits. Die Stadt München stockte die Zahl der Sozialarbeiter deutlich auf. In den Einrichtungen kommt nun ein Betreuer auf 20 Wohnungslose statt wie bisher einer auf 100.

*Seelische Erkrankungen in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe im Großraum München (SEEWOLF)

Quelle: Kongressbericht, 19. Interdisziplinärer Kongress für Suchtmedizin