
Ein Rechtsanwalt erklärt Was Praxisleitungen jetzt zur Barrierefreiheit wissen müssen

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) soll dafür sorgen, dass Menschen mit eingeschränktem Seh- oder Hörvermögen bzw. mit motorischen oder kognitiven Einschränkungen digitale Angebote hindernisfrei nutzen können. Die neuen Anforderungen gelten für Unternehmen – und damit auch für Praxen und MVZ – ab zehn Mitarbeitenden oder einem Jahresumsatz von über zwei Millionen Euro.
Den gesetzlichen Anforderungen entsprechen muss nicht nur die Homepage: Auch alle anderen digitalen Angebote, also etwa Terminbuchungstools oder Kontaktformulare, fallen unter das Gesetz. Die gute Nachricht: Externe Anbieter müssen die Praxis nicht jucken. Das Gesetz gilt nicht für die Inhalte von Dritten, die vom Seitenbetreiber „weder finanziert noch entwickelt werden noch dessen Kontrolle unterliegen“. Damit tragen die Praxen also keine Verantwortung für z. B. Terminbuchungstools, die vom Anbieter gemietet sind.
Technik, Bilder und Struktur müssen überdacht werden
Rechtsanwalt Dirk R. Hartmann, HFBP Frankfurt am Main, erklärt, dass sich die neuen Anforderungen an internationalen Standards, den sog. Web Content Accessibility Guidelines auf Konformitätsstufe AA, orientieren. Sie beziehen sich auf die folgenden Bereiche:
- Technische Grundlagen: Webseiten müssen technisch so aufgebaut sein, dass sie von assistierenden Technologien wie Screenreadern korrekt gelesen und interpretiert werden können. Dazu gehört zum Beispiel eine klare Struktur mit Überschriften, Absätzen und Listen.
- Bilder und Grafiken: Alle Bilder, Grafiken und Diagramme müssen mit aussagekräftigen Alternativtexten versehen werden. Diese Texte werden, wenn das Bild nicht gesehen werden kann, vorgelesen und beschreiben den Inhalt des visuellen Elements.
- Formulare und Navigation: User müssen in der Lage sein, die Webseite und alle Formulare vollständig und ohne Maus nur über die Tastatur zu bedienen. Der Bereich, der gerade aktiv ist (Fokus), muss dabei immer deutlich sichtbar sein. Klare Beschriftungen (Labels) für alle Eingabefelder und eine logische Reihenfolge sind ebenfalls erforderlich.
- Inhalte: Die Texte auf einer Webseite sollten klar und verständlich formuliert sein, um auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Sprachbarrieren den Zugang zu erleichtern, ggf. in leichter Sprache. Ausreichende Kontraste zwischen Text und Hintergrund sind entscheidend, damit die Inhalte gut lesbar sind. Die Schriftgröße sollte zudem anpassbar sein, ohne dass die Funktionalität der Seite verloren geht.
- Multimedia-Inhalte: Bei der Nutzung von Videos oder Audioinhalten sollten Untertitel, Transkripte oder, falls notwendig, Audiodeskriptionen oder Gebärdensprachvideos angeboten werden.
- Benutzerführung: Eine logische und konsistente Navigationsstruktur erleichtert die Orientierung auf der Seite. Ein klares und aufgeräumtes Layout verbessert die Lesbarkeit und das Verständnis. Webseiten müssen zudem auf verschiedenen Geräten – vom Desktop-PC bis zum Smartphone – optimal funktionieren und sich der Bildschirmgröße anpassen, also ein responsives Design haben.
Zu den Anforderungen gehört außerdem, dass Praxen eine Erklärung zur Barrierefreiheit auf ihrer Webseite veröffentlichen. Darin sollen der Stand der Barrierefreiheit sowie Ausnahmen und Kontaktmöglichkeiten für Rückmeldungen aufgeführt sein.
Die Einhaltung dieser Vorgaben ist verpflichtend und es gelten leider auch keine Übergangsfristen. Bei Verstößen drohen Bußgelder von bis zu 10.000 Euro sowie Abmahnungen, erklärt der Anwalt dazu.
Für die Einhaltung des Gesetzes ist die Marktüberwachungsstelle der Länder für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen zuständig. Sie soll im Auftrag der Länder mittels Stichproben die Einhaltung überwachen. Versäumnisse könnten außerdem von Patientinnen und Patienten gemeldet werden, die sich auf einer Webseite nicht frei bewegen können. Und es wird auch vor Wettbewerbern bzw. vor allem Abmahnanwältinnen und -anwälten gewarnt.
Die digitale Welt muss zu den Bedürfnissen aller passen
Rechtsanwalt Hartmann bekräftigt, dass ein barrierefreier Zugang zu Informationen und Dienstleistungen ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen ist. „Menschen mit Einschränkungen müssen selbstverständlich Zugang zu allen Gesundheitsinformationen und Praxisdienstleistungen haben, auch online.“ Es sei also nur folgerichtig, dass sich die digitale Welt an die Bedürfnisse aller Menschen anpasst.
Doch die barrierefreie Gestaltung von Webseiten und digitalen Angeboten wie Terminbuchungstools sei komplex. Was auf dem Papier als sinnvolle Anpassung erscheint, bedeutet in der Praxis durchaus Mehraufwand: Bestehende Webseiten müssen aufwendig geprüft und angepasst sowie oft externe Expertise hinzugezogen werden.
Enttäuscht zeigt sich der Anwalt darüber, dass die Politik den Weg über Druck und Sanktionen wählt. „Statt durch Anreize, Aufklärung oder Unterstützung für die Umsetzung einer so wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe zu motivieren, werden hohe Bußgelder und Abmahnungen in Aussicht gestellt.“ Wünschenswert wäre dagegen, für Gesetzgebungsverfahren einen kooperativeren Ansatz zu wählen, der die Ärzteschaft als Partner und nicht als bloßen Adressaten von Vorschriften und Sanktionen betrachtet.
Mit welchen Kosten ist zu rechnen?
Was eine barrierefreie Webseite kostet, hängt von ihrer Vielschichtigkeit und ihrem Umfang ab. Eine erste grobe Analyse kostet oft nur einen Personentag. So erhalten Sie einen guten Überblick, mit dem Sie Ihr weiteres Vorgehen planen können. Konkrete Änderungsvorschläge sind darin noch nicht enthalten. Mehr Budget brauchen Sie für einen kompletten Test mit Report. Die Analyse einer einfachen Webseite kostet ungefähr zwischen 2.500 Euro und 5.000 Euro. Wer Barrierefreiheit von Anfang an mitdenkt, kann weitere Kosten minimieren: Ein Kontaktformular oder einen Warenkorb barrierefrei zu designen und zu implementieren, ist grundsätzlich nicht aufwändiger, als dieselbe Funktion mit Barrieren zu entwickeln.
Quelle: Aktion Mensch
Wer seine eigene Homepage einschätzen möchte, dem kann die Checkliste helfen: „Wie barrierefrei ist meine Website?“
Vorteile im umkämpften Suchmaschinen-Ranking
Um den Arztpraxen die neue Vorschrift etwas zu versüßen: Barrierefreie Seiten werden nicht nur vom Gesetz verlangt und von Betroffenen wertgeschätzt, sondern werden auch von Suchmaschinen honoriert. Die optimierte Homepage wird also möglicherweise im Ranking auf Google etwas gewinnen. Verstärkt wird der Effekt dadurch, dass viele der Anforderungen der Barrierefreiheit – wie etwa das responsive Design, die Ladezeiten, die Alternativtexte und die strukturierte Menüführung – sowieso schon Kriterien für eine bessere Listung sind. Der Kollateralnutzen addiert sich also sogar.
Quelle: Medical-Tribune-Bericht