Harninkontinenz

Definition

Unter Harninkontinenz versteht man die Unfähigkeit, die Harnausscheidung hinsichtlich Zeit und Ort zu kontrollieren. Dabei können ganz verschiedene Störungen wie neurologische, urologische oder gynäkologische Erkrankungen zugrunde liegen.

Mit zunehmendem Alter nimmt das Problem zu. Man schätzt, dass in Deutschland bis zu 40 % der über 70-Jährigen unter einer mehr oder weniger ausgeprägten Harninkontinenz leiden. Bei älteren, vor allem multimorbiden gebrechlichen Älteren ist Harninkontinenz nicht so sehr als Symptom einer Erkrankung zu sehen, sondern viel mehr als ein „geriatrisches Syndrom“. Viele Risikofaktoren wie etwa Polypharmazie, Einschränkung der Kognition und Mobilität sowie viele weitere Einschränkungen betreffen nicht direkt den unteren Urogenitaltrakt, können aber die Blasenfunktion verschlechtern und eine Inkontinenz auslösen bzw. verschlimmern.

Wichtige Ursachen sind die sogenannte „überaktive Blase“ mit Pollasikurie, Nykturie und Drangsymptomatik bzw. Dranginkontinenz sowie die zumeist auf einer Schwächung des Beckenbodens beruhende Belastungsinkontinenz (vor allem bei Frauen).

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Symptomatik

Die Patienten berichten über einen unwillkürlichen, nicht oder nur schwer kontrollierbaren Harnabgang. Man unterscheidet verschieden Formen.

Harndranginkontinenz (Urge-Inkontinenz)

  • Harnblasendruckerhöhung über den Harnröhrenverschlussdruck aufgrund autonomer, aktiver Detrusorkontraktion
  • starkes Harndranggefühl in Zusammenhang mit einem unwillkürlichen Urinverlust (oft bereits auf dem Weg zur Toilette)
  • bei Frauen unter 50 seltener als die Stressinkontinenz (mit zunehmendem Lebensalter zunehmend), bei Männern in jedem Alter vorherrschend
  • spricht am besten auf medikamentöse Therapie an

Harnstressinkontinenz (bzw. Belastungsinkontinenz)

  • Harnblasendruckanstieg über den Harnröhrenverschlussdruck durch passive Erhöhung des abdominellen Drucks
  • unwillkürlicher Harnverlust bei Anstrengungen, z.B. beim Heben und Tragen, aber auch beim Niesen, Husten oder bei sonstigen körperlichen Arbeiten (jede mechanische Belastung mit Erhöhung des Drucks im Bauchraum)
  • vorherrschende Inkontinenzform bei Frauen
  • meist im Zusammenhang mit einem geschwächten Beckenboden (z.B. nach Geburten)

Mischharninkontinenz (Mixed Urinary Incontinence)

  • vereint Symptome der Drang- sowie der Anstrengungs-assoziierten Inkontinenz

Enuresis

  • unwillkürlicher Harnverlust während des Schlafs

Nachträufeln nach dem Wasserlassen

  • Nachträufeln vor allem bei Männern (mit benignem Prostatasyndrom)

 Kontinuierlicher Harnverlust

  • ohne bewusste Wahrnehmung und vorausgegangenem Harndrang

Vorübergehende, funktionelle oder transiente Inkontinenz

  • vor allem bei älteren Menschen (häufig als als Folge eingeschränkter Mobilität und/oder Kognition)

Reflexinkontinenz

  • bei spinaler Schädigung
  • keinerlei Harndrang, Blase entleert sich selbstständig und unwillkürlich oder auf Klopfreiz (oft nur unvollständige Entleerung mit Gefahr aufsteigender Infektionen)

Überlaufinkontinenz

  • Harninkontinenz bei chronischer Harnretention
  • unwillkürlicher Harnabgang, wenn Harnblasendruck den Harnröhrenverschluss übersteigt
  • bei subvesikaler Obstruktion oder als Nebenwirkung anticholinerger Medikamente
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Untersuchung

Neben der allgemeinen körperlichen Untersuchung muss vor allem auch die mentale und körperliche Leistungsfähigkeit eingeschätzt werden.

Untersuchung des äußeren Genitales/vaginale Einstellung

  • Atrophiezeichen
  • Hautirritation, -infektion
  • Deszensus
  • Prolaps
  • Fistelöffnungen
  • Beckenbodentonus (Kontraktilität und Relaxationsfähigkeit)
  • abdominelle Resistenzen (bimanuelle Untersuchung)

Rektale Untersuchung

  • Beurteilung des analen Sphinktertonus (Kontraktions- und Relaxationsfähigkeit) und der Rektumampulle
  • Beurteilung der perinealen Hautverhältnisse
  • beim Mann grobe Einschätzung der Größe und der Dignität der Prostata

Neurologische Untersuchung

  • Störungen der Sensibilität in den Dermatomen S2–S5 (sog. Reithosengebiet - Hinweise für neurogene Läsionen)
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Labor

Grundlage der Diagnose ist die ausführliche Anamnese mit Erfassung des Miktionsverhaltens.

Urinuntersuchung

  • Ausschluss von Harnwegsinfekten (Mittelstrahlurin beim Mann, möglichst Katheterurin bei der Frau)
  • Mikrohämaturie (z.B. durch Tumore, Steine oder Fremdkörper)

Laboruntersuchungen:

  • bei älteren Patienten Serumnatriumspiegel (Hinweis auf Störung der ADH-Sekretion)
  • evtl. Diabetes-Suchtest (diabetische Zystopathie)
  • Serumkreatinin zur Beurteilung der Nierenfunktion
  • bei älteren Männern PSA-Wert

Miktionstagebuch/Miktionsfrequenz

Optimalerweise über 2–3 Tage sollten folgende Parameter protokolliert werden:

  • Miktionsfrequenz
  • Miktionsvolumen
  • Häufigkeit des Harnverlustes
  • Harndranggefühl
  • Vorlagenverbrauch
  • Trinkmenge
  • Schlaf-Wach-Rhythmus
  • ggf. Einnahme von Medikamenten

Restharnbestimmung

  • bei etwa einem Drittel der älteren Patienten mit Harninkontinenz eingeschränkte Detrusorkontraktion mit relevanten Restharnmengen
  • auch vor und während anticholinerger Medikation

Erweiterte Diagnostik

Eine erweitere Diagnostik wird (bei therapeutischen Konsequenzen) vor allem empfohlen bei:

  • nicht eindeutig klassifizierbarer Harninkontinenz
  • komplexer Vorgeschichte (z.B. neurogene Blasenentleerungsstörung)
  • Therapieresistenz
  • Rezidivinkontinenz

Sonographie

  • obligater Bestandteil der Erstabklärung
  • grobe Einschätzung der Nierenfunktion anhand der Parenchymdicke
  • Konfiguration des Blasenhalses in Ruhe und unter Stressbedingungen
  • Visualisierung der Kontraktion des Beckenbodens
  • transrektaler Ultraschall zur Bestimmung der Prostatagröße

Ausscheidungsurogramm

  • nur bei normaler Nierenfunktion möglich
  • Hinweise auf seitengetrennte Nierenfunktion
  • Darstellung der Blasenkonfiguration
  • Hinweise auf Blasen- und Harnleitersteine, Blasenwandhypertrophie, Blasendivertikel, Restharnbildung, Divertikel, vesikointestinale Fisteln, Nierensteine, Koprostase, Fehlbildungen des Harntraktes, Tumore, Fremdkörper

Urethrozystoskopie

  • Inspektion der Blasenschleimhaut (z.B. Entzündungen)
  • Nachweis von Blasensteinen, Blasentumoren, Blasendivertikeln, endovesikal entwickelte Prostataadenome und -karzinome, vesikointestinale oder vesikovaginale Fistelbildungen.

Urodynamische Untersuchung

  • zur vollständigen urodynamischen Untersuchung gehören Uroflowmetrie, Zystometrie der Füllungsphase mit Erfassung der Sensibilität, Evaluation der Miktionsphase durch eine synchrone Messung von Blasendruck und Flussmessung
  • zur Objektivierung von Symptomen zur Risikoabschätzung bei neurogenen Blasenstörungen
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Differenzialdiagnostik

Harnwegsinfektionen können die klinische Symptomatik einer sog. überaktiven Blase mit Pollakisurie, Nykturie und Drangsymptomatik bzw. Dranginkontinenz vortäuschen und verstärken.

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Pharmakotherapie und nichtinvasive Therapie

Überaktive Blase (mit Dranginkontinenz)

Orale Therapie mit Anticholinergika/Antimuskarinika

  • z.B. Darifenacin, Oxybutynin (auch als Pflaster), Propiverin, Solifenacin, Trospiumchlorid
  • reduzieren die Detrusorkontraktilität, dadurch Zunahme der funktionellen Blasenkapazität
  • potentielle Nebenwirkungen: Glaukom, Obstipation, Restharnbildung und Beeinträchtigung der Kognition bis hin zur Delirauslösung

Botulinum-Toxin

  • Injektion in den Detrusor
  • vor allem bei therapierefraktärer überaktiver Blase

Mirabegron

  • einzige zugelassene Substanz in der Therapie der überaktiven Blase mit einem nicht anticholinergen Wirkmechanismus
  • vor allem bei ungenügendem Ansprechen auf Anticholinergika sowie bei Nebenwirkungen und Kntraindikationen
  • Vorsicht bei Hypertonie

Belastungsinkontinenz:

  • evtl. Versuche mit Duloxetin (SSRI mit alpha-adrenerger und anticholinerger Wirkung)

Allgemeinmaßnahmen und Verhaltensintervention:

  • Vermeidung von Obstipation
  • ausreichende Trinkmenge über den Tag verteilt
  • nicht zu viele harntreibende Getränke
  • Vermeidung schleimhautreizender Stoffe
  • Reduktion von Übergewicht
  • bei Beckenbodenschwäche Beckenbodentraining (möglichst durch speziell ausgebildete Physiotherapeuten, evtl. mit Elektrostimulation)
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Invasive und Interventionelle Therapie

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  • ggf. transurethrale Resektion der Prostata

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