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Protestaktion Ambulante Versorgung krankgeschrieben

Gesundheitspolitik Autor: Dr. Ingolf Dürr

Die Protestierenden vor dem Hotel in Lahnstein: „Wir sehen schwarz“. Die Protestierenden vor dem Hotel in Lahnstein: „Wir sehen schwarz“. © Medical Tribune
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In der Gesundheitspolitik gilt das Rheinstädtchen Lahnstein als Legende. Vor über 30 Jahren wurden dort die Grundpfeiler unseres heutigen Gesundheitssystems gesetzt. Heute hadern Ärzte und Psychotherapeuten mit Budgetierung und Bedarfsplanung. Bei der Protestaktion „Wir sehen schwarz – Für die Zukunft unserer Praxen“ haben sie ihren Unmut kundgetan.

Geschätzt 500 Ärzte und Psychotherapeuten aus Rheinland-Pfalz, dem Saarland und weiteren Bundesländern haben sich frühmorgens bei trübem Wetter vor dem Hotel Wyndham Garden Lahn­stein Koblenz versammelt. Jenem Ort, an dem 1992 der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) zusammen mit dem SPD-Gesundheitsexperten Rudolf Dreßler die gesetzlichen Grundlagen für viele noch heute bestehende Regelungen geschaffen wurde. Die für die Ärzteschaft wohl einschneidendste Maßnahme war die Einführung von Budgetierung und Bedarfsplanung.

Ein Ort wie die Budgetierung: aus der Zeit gefallen

Jetzt tragen die Protestierenden schwarze Warnwesten mit der Aufschrift „Wir sehen schwarz“ und machen mit Trillerpfeifen mächtig Lärm an diesem wie aus der Zeit gefallen wirkenden Ort auf einem Hügel über Lahn und Rhein. Einen „spooky place“ nennt Dr. Peter Heinz, Chef der KV Rheinland-Pfalz, dieses Hotel, denn in den letzten 30 Jahren habe sich hier kaum etwas verändert. Und leider treffe dies in gleicher Weise auch auf die damaligen gesundheitspolitischen Entscheidungen wie Budgetierung und Bedarfsplanung zu, so Dr. Heinz. Diese seien damals unter dem Eindruck einer Ärzteschwemme und einer relativ geringen Nachfrage in der ambulanten Versorgung getroffen worden. Heute aber sei man mit einem einen eklatanten Ärztemangel und einem steigenden Bedarf nach ambulanter medizinischer Versorgung konfrontiert.

Höchste Zeit also, dass sich etwas ändert, finden die Veranstalter der Protestaktion. Sie haben sie einige Referenten eingeladen, die die Probleme in der aktuellen ambulanten Versorgung verdeutlichen sollen. Gleich zu Anfang gewinnt Martin Degenhardt, der Geschäftsführer der Freien Allianz der Länder-KVen, die Herzen der Niedergelassenen, als er sagt: „Sie machen einen der schönsten Berufe der Welt. Aber dieser Beruf wird jedes Jahr neu kaputtreguliert“. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach kümmere sich derzeit mehr um die Lage der Kliniken als um die Situation in der ambulanten Versorgung. Prof. Lauterbach verspreche viel, so auch die Entbudgetierung des hausärztlichen Bereichs, aber er halte leider nur 20 % seiner Versprechungen ein. Degenhardt will einen neuen Pakt mit der Politik schließen, der für weniger Bürokratie, weniger Arztbesuche und mehr Arztzeit sorgen soll. Dafür müssten Hausärzte und Fachärzte an einem Strang ziehen und laut sein, um politisch etwas zu verändern. Die Protestaktion in Lahnstein sei dafür ein guter Anfang.

Mit der Forderung nach einer Entbudgetierung zumindest des hausärztlichen Bereichs und einer Patientensteuerung nach dem Vorbild der hausarztzentrierten Versorgung konnte auch der CDU-Gesundheitspolitiker Erwin Rüddel zunächst beim Publikum punkten. Als er jedoch die These aufstellte, dass die Digitalisierung der beste Weg sei, mehr Zeit für die Patienten zu gewinnen, wurde Rüddel mit höhnischem Gelächter und einem Pfeifkonzert bedacht und gefragt, wann er das letzte Mal eine Arztpraxis besucht habe. Denn dann hätte er bemerken können, dass die Praxen mit einer Digitalisierung auf Basis einer dysfunktionalen Technik keine Zeit gewännen, sondern verlören. Und dafür werde man dann auch noch mit Regress bedroht.

Die Ärzteschwemme von damals ist schon lange passé

Nachdem sich die Gemüter wieder etwas beruhigt hatten, versuchte Thomas Czihal, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), die damalige und derzeitige Situation der ambulanten Versorgung mit Fakten zu belegen. 1992 habe man sich mit einer Ärzteschwemme konfrontiert gesehen, die auf eine geringe Nachfrage nach Leistungen getroffen sei. Die Lösung dafür sei damals die Budgetierung und die Bedarfsplanung gewesen.

Lahnstein-Kompromiss von 1993 brachte harte Einschnitte

Historische Projekte nehmen oft in kleinen Orten ihren Anfang. So war z.B. Weimar der Gründungsort der ersten deutschen Republik. Ganz so bedeutsam ist Lahnstein bei Koblenz eher nicht, aber im Herbst 1992 trafen sich dort in einem Hotel auf den Rheinhöhen der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) und der SPD-Gesundheitsexperte Rudolf Dreßler um über eine grundlegende Organisationsreform der GKV zu reden. Denn die Ausgaben waren aus dem Ruder gelaufen.

Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG), das am 1. Januar 1993 in Kraft trat, sollte diese Entwicklung gestoppt oder zumindest gebremst werden. Die sehr unterschiedlichen Beitragssätze der damals rund 1.200 Krankenkassen sollten aneinander angeglichen werden und ab 1994 ein Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen stattfinden. Ab 1996 sollten Versicherte ihre Krankenkasse frei wählen können.

Mit dem GSG waren auch für die Ärzte harte Eingriffe in die Versorgung und die Autonomie der Selbstverwaltung verbunden. Bestehende Honorarverträge wurden einkassiert und für die weiteren Jahre wurde ein Budgetdeckel eingeführt – der bis heute Bestand hat. Außerdem gab es nun Zulassungsbegrenzungen für Kassenärzte und eine Altersgrenze von 68 Jahren. Seitdem gilt Lahnstein als der Geburtsort des Honorarbudgets und der Bedarfsplanung.

Und damit haben Ärzte bis heute zu kämpfen. Wobei sich die Lage inzwischen entscheidend verändert hat. Lahnstein92 sei im Rückblick Ausgangspunkt für viele Probleme der Gegenwart gewesen, stellt Andreas Staub, Vorstandsmitglied KV Rheinland-Pfalz, fest. „Lahnstein23“ müsse ein Weckruf für die Politik und ein Wendepunkt in deren Handeln sein, die Budgetierung und die Bedarfsplanung in der jetzigen Form zu beenden.

Heute jedoch beklage man einen Fachkräftemangel. So habe es Ende 2022 5.760 unbesetzte Vertragsarztsitze gegeben, davon 4.860 in der hausärztlichen Versorgung. Und die Zahl der Praxisinhaber sei in den vergangenen fünf Jahren von 106.000 um 8 % auf 97.000 zurückgegangen. Dieser „Ärzteschwund“ treffe gleichzeitig auf eine steigende Nachfrage nach Leistungen. Laut Czihal könne die Lösung jetzt nur lauten: „Budgetierung abschaffen, und das möglichst schnell.“

So sieht das auch KBV-Vorstansmitglied Dr. Sybille Steiner. Das, was der Bundesgesundheitsminister derzeit an Reformen auf die Schiene setzen möchte, bezeichnet sie als „entgleis­te“ Reformpolitik. In der Politik brauche es ein radikales Umdenken, um die ambulante Versorgung zu stärken. Dazu zählen eine tragfähige Finanzierung der Praxen, die die Kos­tensteigerungen berücksichtigt, das Ende der Budgetierung, die Abschaffung der Regresse, Bürokratieabbau und eine sinnvolle Digitalisierung. Nur wenn diese Forderungen erfüllt würden, werde es für Mediziner wieder interessant sein, sich in niederzulassen – und für Medizinische Fachangestellte attraktiv, dort zu arbeiten.

Wenig überraschend decken sich die KBV-Forderungen auch weitgehend mit dem in Lahnstein verabschiedeten Grundsatzpapier „Lahnstein23“. Darin heißt es: Die Leistungen in der ambulanten Versorgung müssen endlich wieder aufwandsgerecht bezahlt werden. Die niedergelassene Ärzte- und Psychotherapeutenschaft braucht eine solide wirtschaftliche Perspektive und Planbarkeit, um den heutigen Anforderungen an eine sichere medizinische Versorgung der Menschen weiterhin gerecht werden zu können. Die Politik ist deshalb aufgerufen, die unzeitgemäße und blockierende Budgetierung aufzuheben!

Darüber hinaus sei die Bedarfsplanung in der heutigen Form ein Modell von vorgestern, das Zulassung verhindere und bedarfsgerechte Versorgungsstrukturen blockiere. In Verbindung mit einer Aufhebung der Budgetierung regelten sich die veränderten Bedarfe und die angebotenen Leistungen von selbst. Die Politik wird deshalb aufgerufen, die dringend nötige Reformierung der Bedarfsplanung vorzunehmen.

Krankschreibung für die ambulante Versorgung

Die Diagnose lautet also: Das Gesundheitssystem ist krank, es droht ein Kollaps der ambulanten Versorgung. Daraus folgte in Lahnstein eine Krankschreibung für das Gesundheitssystem bzw. den Minister persönlich – symbolisch in Form eines riesigen Gelben Scheins präsentiert. Die passende Therapie wurde mit „Lahnstein23“ ja bereits verordnet.

Quelle: Medical-Tribune-Bericht

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