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DiGA Spahns Irrtum oder Vorreiter einer nachhaltigen Digitalisierung?

diatec journal Autor: Manuel Ickrath

Hersteller, Kassen und Ärzteschaft sind sich uneins, ob die einjährige Erprobungsphase für DiGA, der Fast Track, zielführend ist. Hersteller, Kassen und Ärzteschaft sind sich uneins, ob die einjährige Erprobungsphase für DiGA, der Fast Track, zielführend ist. © Vadym – stock.adobe.com
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Ende 2023 lagen sehr unterschiedliche Bewertungen vor zum bisherigen Erfolg der Digitalen Gesundheitsanwendungen, kurz DiGA genannt. Der Spitzenverband der DiGA-Hersteller (SVDGV) spricht von dynamischem Wachstum, verbesserter Versorgung und davon, dass die Hersteller beim Nutzennachweis weit über die Anforderungen des Gesetzgebers hinaus gehen. Für den Spitzenverband der Krankenkassen (GKV) hingegen haben sich die Erwartungen nicht erfüllt, und die DiGA haben nach drei Jahren immer noch nicht gezeigt, was sie leisten könnten. Was ist davon zu halten? Es ist Zeit für eine Einordnung.

Zunächst die Fakten. Stand Januar 2024 liegen laut Zulassungsbehörde BfArM 30 dauerhafte und 24 vorläufige Aufnahmen vor. Zurückgezogen wurden 103 Anträge, weitere 156 Anträge auf vorläufige Aufnahme liegen bereits vor. Die Mehrzahl der Zulassungen sind DiGA für psychische Erkrankungen. Im Bereich Stoffwechsel sind jüngst zwei DiGA (glucura und Mebix) dazugekommen. Von den bis heute sieben Stoffwechsel-DiGA hat es aber nur Zanadio, dauerhaft aufgenommen bei Adipositas, unter die ersten zehn meistverschriebenen Anwendungen geschafft und steht auf Platz eins aller DiGA. Die anderen sechs DiGA aus diesem Bereich schaffen es noch nicht einmal unter die 16 meistverschriebenen Apps.

Ende des dritten Quartals 2023 waren rund 375.000 DiGA in Anspruch genommen worden, d.h. so viele Freischaltcodes lagen bis zu diesem Zeitpunkt vor. Für die Krankenkassen bedeutet dies, dass nach drei Jahren circa 115 Mio. Euro an Leistungsausgaben angefallen waren. Viel Geld, aber angesichts von 110 Mio. abgerechneten Gesprächen von Hausärzten im Jahr ist dies noch eine geringe Größe, obwohl die Herstellerpreise von im Durchschnitt 407 Euro pro Quartal im Jahr 2021 auf 593 Euro angestiegen sind. Dies sind die Preise, die während des Fast Tracks, der einjährigen Erprobungsphase, aufgerufen werden. Sobald eine DiGA endgültig zugelassen wurde, ändert sich das Preisniveau schlagartig nach unten. Im Durchschnitt halbieren sich die Quartalspreise nach der Verhandlung zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband. Ohne Schiedsstelle hat es bisher nicht funktioniert.

DiGA-Preise angemessen?

Nachvollziehbar, dass der „teure“ Fast Track den Kassen ein Dorn im Auge ist. Sie laufen von Anfang an dagegen Sturm. Dass die Hersteller hohe Anlaufkosten finanzieren müssen, interessiert sie nicht, sie sehen hier eine ungerechtfertigte Wirtschaftsförderung zulasten der Kassen. Die Kritik an der zu hohen Preisgestaltung wird auch von den Ärzteverbänden BÄK und KVB geteilt. Sie bringen die DiGA-Preise nicht nur in einen Vergleich mit den Kosten für hochwirksame Medikamente, sondern mit der Vergütung der Ärzte für das Verschreiben einer DiGA, in dem die DiGA sehr schlecht abschneidet. Da hilft es auch wenig, darauf hinzuweisen, dass die DiGA extrabudgetär vergütet wird. Es geht den Ärzten schlicht um fehlende Wertschätzung. Der von Jahr zu Jahr teurer werdende Fast Track hat deshalb seine Bewährungsprobe noch lange nicht bestanden. Hat sich Spahn damals also geirrt? Wird der Fast Track zum Rohrkrepierer? Nicht nur die DiGA-Preise entscheiden über sein weiteres Schicksal. Wie sieht es mit der Nutzenbewertung aus? Gibt es Unterschiede zwischen Fast Track und endgültiger Zulassung?

Kein Konsens bei Nutzenbewertung

Bei diesem zentralen Punkt gehen die Beurteilungen von DiGA-Spitzenverband und GKV-Spitzenverband weit auseinander. Im Erprobungsjahr muss der DiGA-Hersteller erste wissenschaftliche Erkenntnisse liefern, die das BfArM erwarten lassen, dass ein endgültiger Nutzennachweis und damit eine endgültige Zulassung sehr wahrscheinlich ist. Dies führt zur vorläufigen Zulassung durch das BfArM. Diese „Erkenntnisse“ haben mit einer ernstzunehmenden Studie mit Evidenzgrad nichts zu tun, sondern bewegen sich oft auf dem Niveau von Beobachtungsstudien. Nichtsdestoweniger darf der Hersteller frei gewählte Quartalspreise aufrufen, z.B. 499 Euro/Quartal, die die Kassen zu vergüten haben. Der Spitzenverband DiGA rechtfertigt diese Herangehensweise damit, dass ohne dieses „bezahlte Erprobungsjahr“ Start-ups ohne Konzern-Background keine finanziellen Möglichkeiten hätten, DiGA zu entwickeln. Der GKV-Spitzenverband findet dies nicht überzeugend. Er argumentiert, dass eine hohe Vergütung anfällt, ohne dass ein Nutzennachweis vorliegt. Schaut man sich einige dieser „Pseudostudien“ im Rahmen der vorläufigen Zulassung näher an, kann man die Kritik teilweise nachvollziehen.

Mitunter wird nicht Kontrollgruppe mit Intervention, sondern ein und derselbe Patient vorher/nachher verglichen. Bei anderen Beobachtungen sind die Ausgangswerte der medizinischen Parameter so hoch gewählt, dass eine Senkung schnell „effektiv“ gemacht wird. Dazu sagt der GKV-Spitzenverband: Das ist ein unklarer Nutzen. Und trotz unklarem Nutzen kommen DiGA in die Regelversorgung und müssen aus Versichertenbeiträgen voll bezahlt werden. So soll im Zeitraum Oktober 2022 bis Oktober 2023 nur eine einzige von 19 aufgenommenen DiGA einen Nutzen für die Versorgung nachgewiesen haben. Eine weitere Kampfansage gegen den Fast Track! Kann die Lösung in fixen, deutlich niedrigeren Preisen im Erprobungsjahr liegen? Wäre das dann das Ende für viele DiGA-Ambitionen?

Nutzungsdauer entscheidend

An der Evidenzlage der endgültig zugelassenen DiGA liest man im GKV-Report keine Kritik, obwohl auch hier bei allem Respekt vor den überwiegend vorgelegten RCT (randomisierten kontrollierten Studien) die z.T. sehr geringe Zahl an rekrutierten Patienten auffällt. RCT ist nicht gleich RCT. Die Stoßrichtung der Kassen geht in eine andere Richtung. Selbst wenn der Nutzen durch eine RCT nachgewiesen ist, wie steht es mit der Nutzungsdauer?

Wir wollen therapeutischen Nutzen bezahlen und keine Downloads – auf diese Formel bringt es der GKV. Ein Freischaltcode allein sagt zu wenig. Die Barmer hat sich mit diesem Aspekt tiefer beschäftigt und eine Befragung ihrer Mitglieder durchgeführt, die eine DiGA verschrieben bekommen haben. Eine Befragung von 1.700 Versicherten im Frühjahr 2023 ergab, dass zwar 1.600 den Freischaltcode für eine DiGA einlösten, aber rund 600 Patienten die digitale Anwendung nicht über die Erstanwendungsdauer von 90 Tagen nutzten. 421 begründeten dies mit nicht erfüllten Erwartungen. 38 Prozent beendeten die Anwendung der DiGA bereits vorzeitig. Die Barmer plädiert deshalb für Testzeiträume, was natürlich die Kostensituation für die Hersteller nochmals verschärfen würde.

Die DiGA-Hersteller werden sich wohl oder übel, allein um den Fast Track zu retten, auf weitere Nutzungsnachweise einlassen müssen. Vielleicht läuft es langfristig auf eine Mischung von Prozess- und Erfolgsparametern hinaus. Schritt für Schritt können weitergehende Methoden ausprobiert werden. Angeblich will die Branche ja agil auftreten, das nahm ja schon Gottfried Ludewig, Abteilungsleiter Digitalisierung bei Spahn, für sich in Anspruch. Bei den Prozessen kann man die Verweildauer des Patienten in der DiGA messen. Zielparameter innerhalb der DiGA helfen, Fortschritte des Patienten nachzuweisen. Die Kür sind natürlich die Outcome-Parameter! Heute schon lassen die Ergebnisse der RCT die Zielerreichung bei der Absenkung z.B. von HbA1c erkennen. Langfristig könnte man die Verhinderung von Krankenhausaufenthalten oder auch eine insgesamt günstigere Versorgung messen. Dazu braucht man sicherlich große Datenmengen, viel größere als heute zur Verfügung stehen. Man bewegt sich dann (endlich!) in Richtung Ergebnisqualität.

Bisher sind alle Überlegungen zu Pay-for-Performance im niedergelassenen Umfeld daran gescheitert, dass nicht zweifelsfrei zu entscheiden war, wer für den Behandlungserfolg, die Performance, verantwortlich war – der Arzt, das Medikament, die Schulung, die Diabetesberaterin – oder demnächst die DiGA. Derjenige Hersteller, der hier eine kreative, medizinisch überzeugende Lösung anbietet, wird einen unbestreitbaren Wettbewerbsvorteil erzielen. Endgültig relevant werden diese Fragen, wenn der Vorschlag des Digitalgesetzes umgesetzt wird, für die DiGA die Risikogruppe IIb zu öffnen. Der Spitzenverband DiGA ist begeistert und sieht darin viel Potenzial für die DiGA. Andere sehen das kritischer. G-BA-Chef Hecken, gewohnt sarkastisch, hält nicht viel von der DiGA: Es blinkt, es kann nichts, es heißt DiGA. Lustig, aber vielleicht hat es Hecken immer noch nicht verkraftet, dass das BfArM statt seiner Behörde mit der Nutzenbewertung beauftragt worden ist.

G-BA muss für Risikoklasse IIb zuständig sein

Spätestens bei Risikoklasse IIb rufen allerdings die meisten Experten nach einer Beauftragung des G-BA! Wenn es um eine potenzielle Gefährdung der Patienten geht, muss das bewährte AMNOG-Verfahren angewendet werden. Ab da muss die Sonderstellung der DiGA gegenüber den Medikamenten beendet sein. Kaum ein DiGA-Hersteller dürfte mit dem AMNOG vertraut sein. Die Hürde wird auf jeden Fall noch einmal deutlich höher – zu Recht! BÄK, KBV und übrigens auch die DDG schließen sich hier dem G-BA in der Risikoeinschätzung vollumfänglich an.

Einig sind sich die Kontrahenten DiGA-Spitzenverband und GKV darin, eine breite Informationskampagne für die DiGA zu fordern. Über die Zuständigkeit gibt es aber gleich wieder Dissens. DiGA-Hersteller sehen die Krankenkassen in der Pflicht, ihre Versicherten zu informieren und zu motivieren, eine DiGA zu nutzen. Die Kassen erwarten von den Herstellern, dass diese zunächst die Ärzte informieren, Testzeiträume und Probeabonnements zur Verfügung stellen. Andere sehen das BMG in der Pflicht, eine staatliche Kampagne zu organisieren, damit Spahns Erfindung nicht zum Rohrkrepierer wird.

Tatsache ist, dass die allermeisten Versicherten, Patienten und Patientinnen nichts von der Existenz der DiGA wissen, geschweige, was sie leisten. Marktwirtschaft im besten Sinne sieht anders aus. Ein Markt muss hier erst geweckt werden. DiGA sind gekommen, um zu bleiben, meint der Herstellerverband. Noch nicht am Ziel, resümiert der Tagesspiegel Background Gesundheit & E-Health. Das klingt noch nicht nach Nachhaltigkeit.

Wenn alle Server datensicherheitsrechtlich gecheckt sind, alle 180 Fragen des BfArM zu Datenschutz abgearbeitet sind, wenn jedes Informationssicherheit-Managementsystem an seinem Platz steht, keine technische Zulassungshürde mehr wartet, alle RCT-Studien publiziert sind und nicht zuletzt das schicke Frontdesign zielgruppengerecht angepasst worden ist – was wartet dann noch auf den DiGA-Hersteller? Ein Markt muss wie erwähnt geweckt werden. Die allermeisten Hersteller konzentrieren sich zu sehr auf die technischen Details.

Was wollen die Ärzte? Die wollen zum Beispiel, dass die DiGA eingebunden ist in die ärztlichen Behandlungspfade. Sind die schon überall definiert? Sollte man vielleicht erst auf die ePA warten, in die die DiGA sich verlinken lassen muss? Aber die ePA kann laut Gematik erst 2028 Daten aufnehmen, ob es sich dabei um das dDMP oder halt die DiGA handelt. Halten die Hersteller so lange durch? Ist der Vorreiter DiGA zu früh losgeschickt worden?

Das Marketing wird mitentscheidend sein

Verfügen die Hersteller über genügend eigens geschulte Außendienstmitarbeiter, um die niedergelassenen Ärzte von der DiGA als Gattung und dann noch von der spezifisch eigenen Lösung zu überzeugen? Nur wer die Ärzteschaft auf seiner Seite hat, kann auf Verschreibungen hoffen. Bleibt für viele dann nur der Weg zu den Pharma-Außendiensten? Wie verhält es sich dann noch mit der unternehmerischen Eigenständigkeit? Ist man sich im Klaren darüber, dass vielleicht die Höhe des Marketingbudgets über Erfolg oder Misserfolg entscheidet? Dies sind strategische Herausforderungen erster Güte, die Fragen nach dem richtigen Informationssicherheit-Managementsystem marginal erscheinen lassen. Das Jahr 2024 wird Antworten gaben auf viele Fragen, die sich Ende 2023 aufgetan haben.

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