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Food Environment Policy Index Handlungsempfehlungen für eine gesunde Ernährung

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

Die Ampel in der Ernährungspolitik: Welche Signale werden gesetzt? Die Ampel in der Ernährungspolitik: Welche Signale werden gesetzt? © iStock/Zelfit, mayalis
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In über 40 Ländern wurde bereits der Food Envi­ronment Policy Index von nationalen Expertenteams erhoben. Deutschland liegt in diesem Vergleich nur im „unteren Mittelfeld“. Wissenschaftler, Fachgesell­schaften und Verbände fordern deshalb, dass die nächste Bundesregierung eine gesundheits­förderliche wie nachhaltige Ernährungspolitik ­einleitet.

Der Food Environment Policy Index (Food-EPI) ist ein methodisches Rahmenwerk für die systematische Erfassung, Analyse und den internationalen Vergleich der politischen Rahmenbedingungen, die die Ernährung auf Bevölkerung beeinflussen. Erstmals wurde durch die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) und die Pettenkofer School of Public Health in München sowie das Bremer Leibniz Institut für Präventionsforschung (BIPS) und Epidemiologie der Status quo für Deutschland erhoben und mit internationalen Best-Practice-Beispielen verglichen. 55 Expertinnen und Experten wurden befragt sowie 47 Indikatoren betrachtet, um zu Reformempfehlungen zu kommen. Dr. Peter von Philipsborn vom Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie der LMU berichtet, dass Deutschland bei der Umsetzung einer gesundheitsförderlichen Ernährungspolitik im internationalen Vergleich nur in zwei von 13 Bereichen „recht gut“ dasteht: bei offiziellen Ernährungsempfehlungen sowie beim Datensammeln und -auswerten. Als „sehr niedrig“ wurden die Aktivitäten bei der Regulierung von Lebensmittelwerbung und -marketing, der Lebensmittelpreisgestaltung, dem Lebensmittelangebot in Einzelhandel und Gastronomie sowie die sektorenübergreifenden Ansätze bewertet. In sieben weiteren Bereichen lautet die Einschätzung „niedrig“.

Für Gesundheit und Ökologie

15 % aller Todesfälle und mehr als 17 Milliarden Euro Gesundheitskosten pro Jahr gehen in Deutschland auf unausgewogene Ernährungsmuster zurück. Mehr als ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung hat starkes Übergewicht und rund 10 % sind an Diabetes mellitus erkrankt, Tendenz steigend. Zudem verursacht das globale Ernährungssystem ein Viertel der weltweiten Treibhausgasemissionen und ist hauptverantwortlich für das Artensterben. So entstehen z.B. bei der Produktion von einem Kilogramm Rindfleisch zwischen 30 und 100 Kilogramm CO2-Äquivalente – 30 bis 100 Mal so viel wie für ein Kilogramm Hülsenfrüchte.

Quelle: Presseinformationen von LMU, BIPS und DANK

Politische Inspiration in anderen Ländern entdecken

In Europa zeigten insbesondere skandinavische Länder, Großbritannien bei der Softdrink-Besteuerung und Frankreich bei der Schulspeisung, was ernährungspolitisch machbar sei. Ein Länder-Ranking gibt es beim Food-EPI zwar nicht. Doch Dr. von Philipsborn verortet Deutschland im „unteren Mittelfeld“ – mit viel Luft für Verbesserungen. 28 Reformoptionen haben die Expertinnen und Experten formuliert und gewichtet. Die Top-Five-Maßnahmen sind:
  • eine qualitativ hochwertige, gebührenfreie Schul- und Kitaverpflegung
  • eine gesundheitsförderliche Mehrwertsteuerreform mit einer Steuervergünstigung für Gesundes wie Obst und Gemüse
  • eine Herstellerabgabe auf Softdrinks
  • eine gesetzlich verbindliche Regulierung von Kinder-Lebensmittelmarketing
  • gesunde Verpflegungsangebote in öffentlichen Einrichtungen wie Kliniken, Behörden, Hochschulen und Seniorenheimen
„Jetzt ist die Politik gefragt, diese Maßnahmen umzusetzen“, sagt der Public-Health-Wissenschaftler. Er plädiert für ein Bundesinvestitionsprogramm für die Kita- und Schulverpflegung, wie es vom wissenschaftlichen Beirat am Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2020 vorgeschlagen wurde. Zur Finanzierung sollte eine Herstellerabgabe auf Softdrinks nach britischem Vorbild eingeführt werden. Außerdem seien gesetzliche Regeln auf Bundesebene nötig, um Kinder vor Werbung für ungesunde Lebensmittel zu schützen. Als Beispiel für eine wirkungsvolle Public-Health-Maßnahme zur Prävention führt PD Dr. oec. troph. Antje Hebestreit vom BIPS die Einschränkungen beim Rauchen in Innenräumen und bei der Tabakwerbung an. Die Lebensmittel- und Werbeindustrien hätten ihre unverbindlichen, selbst gegebenen Regelwerke zu Kinder-Lebensmittelwerbung bislang konsequent ignoriert – und es gebe keinen Grund anzunehmen, dass sich das ändern werde, so lange die Regeln freiwillig bleiben. Die meiste Reklame, der Kinder und Jugendliche in sozialen ­Medien ausgesetzt seien, drehe sich um Snacks und zuckergesüßte Getränke, also genau jene Lebensmittel, die für das kindliche Übergewicht stark mitverantwortlich seien. Eine von der Deutschen Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten (DANK), dem AOK-Bundesverband und der Universität Hamburg durchgeführte Studie hat jüngst gezeigt, dass jedes mediennutzende Kind zwischen drei und 13 Jahren pro Tag durchschnittlich mehr als 15 Werbungen für ungesunde Lebensmittel sieht. Professor Dr. Diana Rubin, Leiterin des Zentrums für Ernährungsmedizin Vivantes Region Nord, Berlin, betont, dass es nicht am Wissen und guten Willen mangelt, sich gesund zu ernähren. Die allgegenwärtigen Umfelder wenig gesunder Lebensmittel, die geschickt beworben, präsentiert und günstig angeboten würden, machten es den meisten Menschen hierzulande schwer, die Empfehlungen für eine ausgewogene Ernährung einzuhalten. Für diese brauche es weder Superfood noch Wunder­diäten. Auch Prof. Rubin spricht sich für verbindliche Regelungen aus, die Hersteller zu Umformulierungen ihrer Produktrezepte bewegen. „Die neue Bundesregierung hat viele und große Aufgaben vor sich – die gezielte Prävention nicht-übertragbarer Krankheiten gehört unbedingt dazu“, sagt Barbara Bitzer, Sprecherin von DANK und Geschäftsführerin der DDG. Fast 90 % aller vorzeitigen Todesfälle in Deutschland würden durch Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes und chronische Lungenkrankheiten verursacht. Damit die gesunde Wahl im Supermarkt auch zur einfachen Wahl werde, müsse der Nutri-Score verbindlich auf allen Lebensmitteln in Deutschland zu finden sein. Bitzer erinnert auch an das 2017 vorgestellte Modell einer „gesunden Mehrwertsteuer“. Berechnungen der Universität Hamburg sowie Beispiele aus etwa Großbritannien zeigten, dass eine spürbare geringere Besteuerung gesunder Lebensmittel und gleichzeitige Verteuerung ungesunder Lebensmittel Verhaltensänderungen bei Käufern wie Anbietern bewirken können. Theoretisch führe das Konzept der „gesunden Mehrwertsteuer“ dazu, dass im Durchschnitt jeder Erwachsene etwa zwei Kilogramm abnehmen würde.

Mit Mut und Weitblick dem Tsunami begegnen

Bitzer sieht die politischen Forderungen von DANK – dem Bündnis gehören 23 medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften und Organisationen an – durch die Erkenntnisse des Food-EPI eindrucksvoll bestätigt. Das Forschungsprojekt zeige, welche Maßnahmen besonders großes Potenzial haben. „Die neue Bundesregierung darf nicht länger zögern und muss mehr politischen Mut und Weitblick beweisen, damit der Tsunami nicht-übertragbarer Krankheiten wirksam gestoppt werden kann.“

Quelle: Pressekonferenz von LMU, BIPS und DANK

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