Wissenschaftsfeindlichkeit in der Medizin Angriffe auf Mediziner: Wenn Wissenschaftsfeindlichkeit zur Gefahr wird

Gesundheitspolitik Autor: Anouschka Wasner

Forschende und Mediziner erleben zunehmend Hass, Drohungen und juristische Angriffe, berichtet eine Expertin.
Forschende und Mediziner erleben zunehmend Hass, Drohungen und juristische Angriffe, berichtet eine Expertin. © Lyn Lee – stock.adobe.com

Juristische Erpressung, Drohungen, Hassmails: Immer mehr Mediziner und Forschende geraten ins Visier organisierter Angriffe. Im Podcast berichtet eine Expertin aus der Beratungspraxis und wie gezielte Hilfe Betroffene stärkt.

Das Telefon klingelt, eine junge Wissenschaftlerin ruft an. Nur wenige Stunden nach einem Fernsehinterview über das Impfen lag ein Anwaltsschreiben in ihrem Postfach: Sie habe 48 Stunden Zeit, das Interview zurückzuziehen und eine eidesstattliche Erklärung zu unterschreiben, nie wieder zu diesem Thema zu arbeiten. Bei Nichtbefolgung drohen 600.000 Euro Strafe. „Wenn man jung ist und noch andere Dinge um sich herum hat wie etwa die Fertigstellung der Promotion“, sei dies „eine unfassbar hohe Belastung“, bewertet Julia Wandt diesen Fall aus der Beratungspraxis von Scicomm-Support.

Wandt ist Expertin für Hochschul- und Wissenschaftskommunikation und Mitbegründerin der ersten deutschen Beratungsstruktur für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich bedroht fühlen: dem Scicomm-Support. In den zwei Jahren seit dem Aktivwerden hat die Initiative 105 Fälle betreut, manche über ein Jahr lang. Die Beratungsstelle wendet sich an alle, die zu Wissenschaft kommunizieren – auch Beschäftigte aus dem medizinischen Betrieb.

Die Betroffenen, die bei Scicomm-Support anrufen, müssen sich nicht als Einzelfälle fühlen: 70 % der Forschenden nehmen eine Zunahme der Wissenschaftsfeindlichkeit in den letzten Jahren wahr und 45 % sagen, dass sie mindestens eine Form von Anfeindung gegen Wissenschaft selbst erlebt haben. Das besagt eine Studie des Verbundes „Kapazitäten und Kompetenzen im Umgang mit Hassrede und Wissenschaftsfeindlichkeit“ (KAPAZ). Das Projekt soll mehr dazu in Erfahrung bringen, wie Wissenschaftsfeindlichkeit entsteht und in Erscheinung tritt, wie sie sich auswirkt und wie ihren Folgen vorzubeugen ist.

Die Bandbreite der Anfeindungen gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist groß: „Es geht los mit herablassenden Äußerungen, mit Anzweifeln der Kompetenz durch bewusst verletzende Kritik, mit Trolling in öffentlichen Diskussionen“, erklärt Wandt. „Weiter geht es mit der persönlichen Diskriminierung etwa aufgrund von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht. Und am anderen Ende der Skala sprechen wir von rechtlich relevanten Taten, also etwa Vandalismus, Gewaltandrohung oder Todesdrohungen und auch reale physische Gewalt.“

Auch Lobbygruppen aus dem medizinischen Umfeld aktiv

Wandt unterscheidet aufgrund ihrer Beratungserfahrung verschiedene Gruppen von Angreifenden: So verfolgen etwa manche Personen oder Institutionen ein bestimmtes Interesse – auch Lobbygruppen aus dem medizinischen Umfeld gehören oft zu dieser Gruppe. Weiter gebe es organisierte Einzelpersonen, die sich zusammentun. „Dann wird auf Telegram ein Interview gepostet von jemandem, der sich pro Impfpflicht äußert, und es heißt: Lasst uns dort treffen und die Person beschimpfen.“ Die Angreifenden kennen sich nicht, aber sie eint ein Ziel: Menschen aus der Wissenschaft zum Verstummen zu bringen. Zum dritten Typus gehören Einzelpersonen, die ihre Angriffsziele sogar teils persönlich aufsuchen, aber die die Tragweite ihres Handelns eventuell gar nicht einschätzen können.

Auffallend ist dabei auch eine politische Dimension. „Als wir die Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern hatten, stieg bei uns automatisch die Kontaktaufnahme von Politikwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, die sich etwa zum Erstarken rechter Parteien geäußert haben“, erzählt Wandt. Aber neben diesem naheliegenden Phänomen gerieten auch andere Themen in die Schusslinie. „Das sind dann Inhalte, die aus dem rechten Umfeld gezielt beeinflusst werden sollen wie etwa die Klima- oder Genderforschung.“ 

In diesem Zuge gerät auch die geschlechtersensible Medizin ins Fadenkreuz. Dann passiert, was Wissenschaften eben droht, wenn sie polarisieren: Es wird versucht, „definitiv vorhandene wissenschaftliche Fakten durch Anfeindungen zu diskreditieren“, sagt Wandt. Dabei könne das System Wissenschaft insgesamt ganz schnell zum Angriffspunkt werden, wie man gerade in den USA sehe. „Diese Angriffe kommen leider oft von Rechtsaußen.“

Im Notfall wird Hilfe  auf allen Ebenen gebraucht

Im Fall eines Angriffes bietet der Scicomm-Support dreistufige Unterstützung: Informationsmaterial, Trainings und persönliche Beratung täglich von 7 bis 22 Uhr. „Wir unterstützen auf der Kommunikations- und der rechtlichen und bei Bedarf auch auf der psychologischen Ebene“, erklärt Wandt.

In einer realen Bedrohungslage müsse selbstverständlich als Allererstes die Polizei gerufen werden. Davon abgesehen sei es wichtig, sich möglichst frühzeitig beim Support zu melden, wenn man sich unterstützen lassen möchte. Niemand müsse sich scheuen, auch bei vermeintlichen „Kleinigkeiten“ anzurufen. „Für uns ist wichtig: das individuelle Empfinden. Dass sich eine Person angefeindet fühlt, ist das wichtige Momentum“, betont sie. Zumal die vielleicht anfangs noch wegzusteckenden Angriffe sich mit der Zeit auch zu bedrohlicheren Szenarien ausweiten können. Auch deswegen ist es wichtig, bei digitalen Angriffen, die Übergriffe nicht einfach zu löschen, sondern sie gerichtsfest mit Datum und URL zu dokumentieren.

Präventiv können Ärztinnen und Ärzte regelmäßig den eigenen Namen googeln und alte Informationen z. B. zu privaten Interessen löschen lassen. Eine Melderegistersperre beim Einwohnermeldeamt verhindert, dass Personen die Privatadresse erfragen können; bei der Beantragung der Löschung kann der Scicomm-Support unterstützen.

Trotz allem plädiert Wandt für Mut. Wichtig sei, dass man korrekt kommuniziert, so wie man es machen würde, wenn es die möglichen Anfeindungen nicht gäbe. Denn das Ziel der Angreifer sei klar: Man hofft, die Menschen dazu zu bringen, dass sie nicht mehr kommunizieren. Ermutigend sei für sie: „Wir haben Rückmeldungen von Personen, die sagen: ‚Ich musste den Scicomm-Support bislang nicht kontaktieren, aber ich weiß, dass wenn es passiert, dann sind Sie da – und deswegen höre ich nicht auf zu kommunizieren.‘“

Am Ende geht es um mehr als Einzelschicksale. „Das ist eine Demokratiefrage“, betont Wandt. „Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass demokratische Prozesse weiterhin funktionieren.“ Das Recht auf freie Wissenschaftskommunikation müsse erhalten bleiben. 

Wer mehr zu den Erfahrungen des Scicomm-Support wissen möchte bzw. warum Forschende und Medizinerinnen und Mediziner überhaupt zum Ziel solcher Angriffe werden, kann in unserer aktuellen Podcastfolge von O-Ton-Allgemeinmedizin mehr dazu erfahren. 

Quelle:
Julia  Wandt

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O-Ton Allgemeinmedizin gibt es alle 14 Tage donnerstags auf den gängigen Podcast-Plattformen. Wir sprechen mit Expertinnen und Experten zum Umgang mit besonders anspruchsvollen Situationen in der Praxis. 

Julia  Wandt, Expertin für 
Kommunikation, Hochschul- und Wissenschaftskommunikation
Julia Wandt, Expertin für Kommunikation, Hochschul- und Wissenschaftskommunikation © Antonia Mathia