Anzeige

Nachhaltigkeit „Müll ist ein Designfehler“

Autor: Antje Thiel

Die Medical Device Regulation (MDR) der Europäischen Union gibt vor, dass Medizinprodukte so designt werden sollten, dass sie sicher entsorgt werden können. Die Medical Device Regulation (MDR) der Europäischen Union gibt vor, dass Medizinprodukte so designt werden sollten, dass sie sicher entsorgt werden können. © John Desing – stock.adobe.com
Anzeige

Dass Umweltfaktoren die Diabetesprävalenz beein­flussen, ist seit Langem bekannt. Noch nicht allzu lange diskutiert man darüber, dass umgekehrt auch die Diabetestherapie zu Umweltproblemen führt. Doch bei Menschen mit Diabetes, medizinischen Fachkräften und in der Industrie wächst das ­Bewusstsein für das Problem – und die Bereitschaft, etwas zu unternehmen.

Die Sitzung „Diabetestechnologie und Müll“ fand erst kurz vor Kongress­ende statt, als nicht mehr so viele Kongressbesucher*innen anwesend waren. Doch Dr. David Carr von der Diabetes Technology Society im kalifornischen Santa Barbara zeigte sich überzeugt: „Das Thema wird größer und größer.“ So steige das Risiko, an einem Typ-2-Diabetes zu erkranken, nicht nur aufgrund genetischer und Lebensstilfaktoren, sondern auch infolge von Umwelteinflüssen, z.B. durch Mikroplastik, hormonaktive Substanzen (endocrine disrupting chemicals, EDC) oder per- und polyfluorierte Alkylverbindungen (PFA).

Doch umgekehrt entstehen auch Umweltschäden durch die Therapie eines Diabetes. So gebe es in den Bedienungsanleitungen für Diabetesprodukte wie Insulinpens oder -ampullen explizite Anweisungen, diese nach Gebrauch nicht dem Recycling zuzuführen, sondern im Hausmüll zu entsorgen, erklärte Dr. Carr mit Blick auf die Situation in den USA. Andere Diabetesutensilien wie Glukosesensoren gehören am Ende ihrer Lebenszeit in den Elektroschrott, Batterien oder Nadeln wiederum in die Gefahrstoffsammlung. Immerhin gebe es schon eine Reihe sinnvoller Initiativen: So hätten z.B. Unternehmen durch kleinere Sensoren und Applikatoren bzw. reduziertes Verpackungsdesign wichtige Schritte unternommen. Andere Firmen versuchten, sich über CO2-Kompensation ein grüneres Image zu verschaffen. Um die Herausforderungen gebündelt anzugehen, regte Dr. Kerr die Gründung eines multiprofessionellen Boards an, in dem sich Menschen mit Diabetes, Diabetes-
teams und Industrie gemeinsam engagieren können. Denn: „Wenn es um Diabetes geht, ist Müll ein Designfehler!“

Frankreich: Rückgabe von Medizinabfällen möglich

Professor Dr. Lutz Heinemann vom Institut für Stoffwechselforschung in Neuss berichtete über den europäischen Status Quo in Sachen Diabetesmüll. So gebe die neue Medical Device Regulation (MDR) der Europäischen Union in einer kleinen, etwas versteckten Passage vor, dass Medizinprodukte so de­signt und produziert werden sollten, dass sie sicher und einfach entsorgt werden können. „Hier sollten wir an die MDCG herantreten und sie um spezifischere Aussagen zum Thema Müll bitten“, riet der Experte für Diabetestechnologie. Die MDCG ist die Medical Device Coordination Group (Koordinierungsgruppe Medizinprodukte).

Wie so etwas konkret aussehen kann, erläuterte Prof. Heinemann am Beispiel von DASTRI, einer staatlich anerkannten und von der Gesundheitsbranche finanzierten französischen Institution, die potenziell infektiöse bzw. verletzungsträchtige Medizinabfälle sammelt, aufbereitet und recycelt. Patient*innen können ihre gefüllten DASTRI-Sammel­boxen bei speziellen Sammelstellen abgeben. Einzelne Medizinabfälle, z.B. benutzte schlauchlose Insulinpumpen, werden dann nach genau definierten Vorgaben zerlegt und insbesondere Metalle und Batterien aussortiert. 

Klimaneutrale Lieferketten wichtiger als Müllvermeidung?

Gesundheitssysteme weltweit sind für 4–5 % der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. „Unsere Industrie trägt mehr zum Treibhauseffekt bei als die Autoindustrie“, mahnte Dr. Matthias Schweizer, der als Manager bei Novo Nordisk die Perspektive der Pharma- und Medizinprodukte-Industrie beleuchtete. Diese Probleme würden von einer wachsenden Zahl von Unternehmen wahrgenommen und angegangen. Er legte allerdings Wert auf die Feststellung, dass es insgesamt um weit mehr geht als um Müllvermeidung und -recycling. Denn ein Großteil der Emissionen entfalle auf Lieferketten (> 50 %) und Gesundheitseinrichtungen (< 35 %). Der Diabetesmüll, der bei den Patient*innen selbst entsteht (< 10 %), falle im Vergleich dazu ebenso wie Forschung und Entwicklung (< 5 %) deutlich weniger ins Gewicht.

Ein vergleichbares System sollte nach Auffassung von Prof. Heinemann auch auf europäischer Ebene installiert werden. Aktuell seien Patient*innen die wichtigste treibende Kraft beim Thema Diabetesmüll. Doch eigentlich müssten sich auch die Fachgesellschaften dieser Aufgabe annehmen. In etlichen europäischen Staaten hätten die nationalen Diabetes-Fachgesellschaften bereits Arbeitsgruppen zum Thema „Green Diabetes“ gegründet. 

„Die EASD sollte durchaus eine politische Rolle spielen“

„Die EASD hingegen hat bislang noch keine vergleichbaren Aktivitäten ins Leben gerufen“, mahnte Prof. Heinemann, „dabei sollte sie hier durchaus auch eine politische Rolle spielen.“ Doch auch die Hersteller von Diabetestechnologie sieht er in der Verantwortung. Er kritisierte, dass allzu häufig exakte Angaben zu den verwendeten Kunststoffen fehlen, ohne die ein Recycling nicht möglich ist. Überflüssig findet Prof. Heinemann hingegen die vorgeschriebene Bereitstellung vollständiger Bedienungsanleitungen auf Papierform: „Was würde denn passieren, wenn die Hersteller diese Vorschrift einfach ignorieren und den Packungen nur noch einen kleinen Zettel mit einem QR-Code beilegen würden, der zur vollständigen Bedienungsanleitung im Netz führt?“

ATTD 2023 

Anzeige