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Grabscher im OP: Sexuelle Belästigungen in der Medizin gang und gäbe?

Gesundheitspolitik Autor: Michael Brendler

Krankenhäuser und Ambulanzen bringen leider viele Voraussetzungen mit, die Belästigern, Vergewaltigern und Frauenfeinden das Treiben erleichtern. Krankenhäuser und Ambulanzen bringen leider viele Voraussetzungen mit, die Belästigern, Vergewaltigern und Frauenfeinden das Treiben erleichtern. © iStock/Catalin205
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Seit dem Skandal um den Filmproduzenten Harvey Weinstein fegt die #MeToo-Bewegung durchs Land. Leider bildet die Medizin hier keine Ausnahme. Eine Kollegin machte ihre Erfahrung publik und bekommt seitdem ständig Post von Ärztinnen, denen es ähnlich erging.

Professor Dr. Reshma Jagsi ist damals noch einigermaßen gut davongekommen. Nach einem Abendessen wurde sie während einer Fachkonferenz von einem prominenten Chirurgen belästigt. Nach den ersten abgewiesenen Avancen stellte der Mann ihr bis zur Damentoilette nach, wo ihr glücklicherweise eine Kollegin aus der Patsche half.

In der Folge, schreibt die Professorin der Abteilung für Strahlentherapie der Universität Michigan nun, habe sie Karrierechancen ausgelassen, nur um ihrem Verfolger aus dem Weg zu gehen. „Und ich zweifelte an mir selbst: Warum waren meine beruflichen Erfolge nicht gut genug, dass dieser Mann es vorzog, mich nicht als erfolgreiche, interessante Kollegin, sondern als sexuelles Objekt zu sehen?“

Vor zwei Jahren nahm die Autorin schließlich das Phänomen der sexuellen Belästigung in medizinischen Fakultäten als Wissenschaftlerin genauer unter die Lupe und veröffentlichte eine entsprechende Studie: 30 % der Ärztinnen und Studentinnen wussten demnach von derartigen Erfahrungen zu berichten – selbst Prof. Jagsis Chef wollte es damals kaum glauben. In der Folge sei sie fast überschüttet worden von den Briefen ihrer Leserinnen, die von ihren eigenen derartigen Erfahrungen berichteten.

Der Chef öffnete ungefragt den Reißverschluss

Eine schrieb über den Vorgesetzten, der inmitten eines Social Events bei einer Konferenz ungefragt den Reißverschluss ihres Kleides öffnete. Andere klagten über wiederholtes Grabschen, zudringliche Ausbilder oder Belästigungen im Operationssaal. Gemeinsam war all diesen Geschichten, dass die meisten Frauen sich nicht getraut hatten, ihre oft traumatischen Erlebnisse anzuzeigen. Zu groß war die Angst, Karriere, Stellung oder das Verhältnis zu den Kollegen zu beschädigen.

Und wenn sich dann doch eine traute, musste sie manchmal unschöne Dinge erleben, wie eine Briefschreiberin mit dem Anwalt der Personalabteilung ihrer Klinik: „Unsere Arbeit ist es, die Institution zu schützen“, wies der sie zurecht, „nicht Sie“.

„Das Problem sexueller Übergiffe ist nach meinem Gefühl in der Medizin so groß wie überall sonst“, schreibt Prof. Jagsi – „mindestens“. Insbesondere, wenn man noch die Übergriffe der Patienten dazurechne. Krankenhäuser und Ambulanzen brächten leider viele Voraussetzungen mit, die Belästigern, Vergewaltigern und Frauenfeinden das Treiben erleichtern: Eine lange Tradition männlicher Dominanz und hierarchischer Strukturen einschließlich einer großen Macht der Vorgesetzten über ihre Untergebenen zum Beispiel. Ergänzt würde diese gefährliche Mischung durch den leichten Zugang zu Betten und durch häufige Nachtschichten, in denen aller Erfahrung nach die Hemmungen gerne sinken und die Hallen leer sind.

Die Daten der Kollegin zeigen den Handlungsbedarf. Astronomen ernennen auf ihren Fachkonferenzen inzwischen stets ältere Kolleginen zu „Astronomy allies“. An einem dicken Sticker erkennbar, stehen sie jederzeit und überall in den Konferenzzentren bereit, um bedrängten Kolleginnen zu Hilfe zu eilen, ohne sie gleichzeitig mit unangenehmen Fragen abzuschrecken. Prof. Jagsi beurteilt die Situation so: „Ist es nicht ein beschämendes Statement über unsere Gesellschaft, dass solch ein System in einem professionellen Rahmen notwendig ist?“

Quelle: Jagsi R. NEJM 2017; online first

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