Dynamiken des Bundesgesundheitsministeriums „Man kann auch ohne Vorerfahrung eine erfolgreiche Ministerkarriere hinlegen“

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

„Ob ihre Posten neu besetzt werden, hängt von den Führungsentscheidungen eines Ministers, einer Ministerin ab.“ „Ob ihre Posten neu besetzt werden, hängt von den Führungsentscheidungen eines Ministers, einer Ministerin ab.“ © kwarner - stock.aodbe.com

Wenn ein neues Gesicht das Bundesgesundheitsministerium übernimmt, beginnt hinter den Kulissen ein heikler Prozess: Wie viel Vertrauen schenkt die Ministerin oder der Minister den Mitarbeitenden des Hauses? Ist die neue Spitze beratungsoffen oder schirmt sie sich ab? Solchen Fragen geht Simon Bogumil-Uçan nach. Für seine Dissertation forscht der Politikwissenschaftler zum Führungsstil im BMG und hat mit zahlreichen Ministerialbeamtinnen und -beamten gesprochen. 

Herr Bogumil-Uçan, vor welchen Kernaufgaben stehen Ministerinnen und Minister in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit im BMG?

Bogumil-Uçan: Die erste Kernaufgabe ist die Etablierung einer Arbeitsbeziehung. Das gilt vor allem für die Fachebene, also die Personen, die auch beim Wechsel des Spitzenpersonals im Haus bleiben. Ein Ministerium bildet auf Dauer ein eigenes Selbstverständnis aus. Zum Beispiel sind Beamtinnen und Beamte auf der Fachebene funktional politisiert. 

Das heißt, sie sind zwar nicht nach politischen Kriterien auf ihre Posten gekommen, aber sie denken politisch und strategisch und haben mit der Zeit gewisse inhaltliche Präferenzen ausgebildet oder manchmal eine Nähe zu bestimmten Akteuren, auch außerhalb des Ministeriums. Von daher ist es klug, wenn Ministerinnen und Minister mit einem entsprechenden Bewusstsein für diese Sachverhalte an ihr Ministerium herangehen, aber offen für Beratung sind und Expertise wertschätzen, um eine gute Arbeitsbeziehung zu etablieren.

Für das Personal bedeutet es sicher eine große Veränderung, wenn das Ministerium nach einer Wahl an eine andere Partei fällt, wie zuletzt von der SPD an die CDU.  

Unter Umständen. Wenn ein Ministerium von einer sehr erfolgreichen oder durchsetzungsstarken Person geführt wurde, kann es sein, dass das Haus sich mit dieser Figur identifiziert. Daher machen Ministerinnen und Minister in der Regel auch nie die Vorgängerin oder den Vorgänger schlecht, selbst wenn man im Wahlkampf andere Schwerpunkte gesetzt hat. Manchmal kommt es sogar vor, dass Ministerinnen und Minister Perspektiven des Hauses entgegen der eigenen Parteimeinung übernehmen. Zum Beispiel war das AMNOG unter Philipp Rösler 2011 eine Überraschung, weil die FDP der Pharmaindustrie eher nahesteht. Unmittelbar nach der Finanzkrise bestand eben die Befürchtung, dass die GKV-Kosten steigen könnten. Rösler griff damals auf das Konzept zurück, das im Haus bereits vorlag.

Gibt es eine weitere Kernaufgabe in den ersten Wochen im Amt? 

Die Zusammenstellung des Führungsteams – und damit die Frage, welche Personen auf der Leitungsebene ausgetauscht werden sollen. Es gibt zum einen die Karrierebeamten, das sind beispielsweise Referentinnen und Referenten oder Leiterinnen und Leiter von Referaten. Diese Personen bleiben im Amt. Aber die Abteilungsleitungen und Staatssekretärinnen und -sekretäre sind politische Beamte und durchaus austauschbar. Ob ihre Posten neu besetzt werden, hängt von den Führungsentscheidungen eines Ministers, einer Ministerin ab. Wobei es auch sein kann, dass manche Posten aufgrund äußeren Drucks besetzt werden – besonders auf der Ebene der Staatssekretärinnen und -sekretäre. Es kam schon vor, dass ein Kanzler oder die Fraktion wollten, dass bestimmte Personen auf diese Posten kommen.

Haben Sie ein Beispiel? 

Helmut Kohl wollte 1991, dass sein CDU-Vertrauter Baldur Wagner beamteter Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium wird. Die damalige CSU-Gesundheitsministerin Gerda Hasselfeldt und ihr Nachfolger Horst Seehofer mussten das akzeptieren. Hasselfeldt hatte dann ein sehr dysfunktionales Arbeitsverhältnis zu ihm, Seehofer hat eine gute und vertrauensvolle Beziehung aufgebaut.

Welche Folgen hat es, wenn sich zwischen dem Spitzenpersonal im BMG ein dysfunktionales Verhältnis etabliert? 

Das kommt darauf an, was die Akteure daraus machen. Gerda Hasselfeldt und Baldur Wagner haben sich nicht vertraut. Hasselfeldt hat sich im Ministerium isoliert und nur einer Person vertraut, nämlich ihrem ehemaligen Büroleiter, den sie zum Abteilungsleiter beförderte. Das trug dazu bei, dass sie politisch keinen so großen Erfolg hatte und relativ schnell zurücktreten musste. Hinzu kam, dass ihre Vertrauensperson in einen Skandal verwickelt war. Man konnte ihm nachweisen, dass er in seiner Studienzeit für den polnischen Geheimdienst gearbeitet hatte. Grundsätzlich haben Ministerinnen und Minister, die sich isolieren, nicht die Möglichkeit, die großen fachlichen Ressourcen des Hauses voll in die eigenen strategischen Überlegungen einzubinden. Sie haben damit einen Nachteil gegenüber denjenigen, die versuchen, diese Expertise auszuschöpfen.

Auch bei Nina Warken könnte es ein Spannungsverhältnis zu einem Staatssekretär geben, nämlich zu Tino Sorge. Er war quasi schon als Gesundheitsminister gesetzt, dann wurde es überraschend Warken. Meinen Sie, damit stehen die beiden in Konkurrenz? 

Das kommt auf die beiden Akteure und ihre Persönlichkeit an. Es stimmt, Sorge wurde schon als Minister gehandelt und dann wurde es eine Person, die gar nicht aus der Gesundheitspolitik kommt. Insofern wird es interessant zu sehen, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden gestalten wird.

Interne Konflikte und Unzufriedenheit im BMG gab es wohl auch unter Karl Lauterbach. Ihm wurde vorgeworfen, er würde die Expertise des Hauses ignorieren und habe seine eigene Meinung durchsetzen wollen. Sehen Sie das auch so?

Ich habe mich in meiner Forschung nicht spezifisch mit Lauterbach beschäftigt. Über die Medien habe ich mitbekommen, dass er teils Entscheidungen verkündete, die Betroffenen aber erst spät unterrichtet wurden. Beispielsweise bei der Umgestaltung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die jetzt BIÖG heißt. Das ist ein Beispiel für einen Führungsstil, der gegenüber den eigenen Beamten nicht beratungsoffen ist.

Welche Führungsstile lassen sich denn differenzieren?

Vereinfacht gesprochen gibt es zwei Grundtypen von Ministerinnen und Ministern: Diejenigen, die sich eher von der Expertise des Hauses isolieren und dann mit Vertrauten ihr „Küchenkabinett“ aufbauen. Und dann gibt es die Kategorie von Ministerinnen und Ministern, die beratungsoffen sind. Horst Seehofer oder Ulla Schmidt beispielsweise. Die beiden hatten zwar auch ihren internen Führungskreis, aber dazu gehörten auch Staatssekretäre oder Abteilungsleitungen. Ulla Schmidt war außerdem bekannt dafür, dass sie bei vielen Fragen zum Telefonhörer griff und über die Hierarchiestufe hinweg Referentinnen oder Referenten angerufen hat, um sich Sachverhalte erklären zu lassen. 

Das ist natürlich ein Verhalten, das das Haus sehr wertschätzt.

Auch Nina Warken muss an der einen oder anderen Stelle vielleicht nachfragen, sie hat schließlich keine gesundheitspolitische Vorerfahrung. Wie unterscheidet sich die Einarbeitungsphase im BMG, wenn das der Fall ist? 

Nina Warken muss sich erstmal in ein sehr komplexes Themenfeld einarbeiten. Ich habe den Eindruck, dass die Akteure im Gesundheitswesen denken, sie sei dadurch stärker beeinflussbar. Anders als bei Lauterbach, der schon seit Jahrzehnten in der Gesundheitspolitik war und mit ganz klaren Zielvorstellungen ins Amt gekommen ist. Warken hat jetzt erstmal eine zuhörende Rolle eingenommen und betont, dass sie konsensorientiert vorgehen möchte. Die Herausforderung wird darin bestehen, aus dieser zuhörenden Rolle in eine gestaltende Rolle zu kommen. Man muss bedenken: Wenn es Lösungen gäbe, mit denen alle Akteure zufrieden wären, hätten die vorigen Minister sie bereits gefunden. Das Beispiel Ulla Schmidt zeigt allerdings, dass man auch ohne Vorerfahrungen im Politikfeld eine erfolgreiche Ministerkarriere hinlegen kann.

Wie meinen Sie das?

Ulla Schmidt wurde 2001 Gesundheitsministerin und kam ebenfalls nicht aus der Gesundheitspolitik. Sie war Rentenpolitikerin und etwa bei der Durchsetzung der Riester-Reformen beteiligt. Als sie sich einarbeitete, haben ihr bestimmte Eigenschaften geholfen. Sie wurde intern als regelrechte „Aktenfresserin“ bezeichnet, die sich in Details vertieft hat und sich Zahlen gut merken konnte. Politisch hat sie es zunächst wie Warken jetzt gemacht: Sie hat eine konsensorientierte Haltung eingenommen und ist zum Beispiel der Ärzteschaft in einigen Punkten entgegengekommen. Zunächst wurde sie dafür gelobt, auch weil es ein Kontrapunkt zu ihrer Vorgängerin Andrea Fischer war. Sehr schnell wurde ihr das dann aber – auch mit Blick auf das damals ebenfalls hohe Kassendefizit – als Führungsschwäche ausgelegt. 

Man kann auch einen Genderaspekt herausarbeiten, weil Schmidt häufig als rheinische Frohnatur beschrieben wurde, die den Leuten freundlich und aufgeschlossen begegnet. Frauen in der Politik wird so etwas schnell als Schwäche ausgelegt. Sie transformierte ihre Rolle dann grundlegend, als sie 2003 mit der oppositionellen CDU/CSU-Fraktion das GKV-Modernisierungsgesetz ausgehandelt hat. Dabei wurden in struktureller Hinsicht innovative Reformelemente wie die Einführung von MVZ oder einer hausarztzentrierten Versorgung verknüpft mit einer deutlichen Erhöhung von Zuzahlungen, was man mit Blick auf die damit einhergehenden finanziellen Belastungen für Versicherte allerdings kritisch sehen sollte. In jedem Fall hat sich Schmidt mit diesem Gesetz Anerkennung in der Gesundheitspolitik verschafft und ihre Position als Ministerin gefestigt. Mit einer Amtszeit von 2001 bis 2009 war sie lange Gesundheitsministerin. Von daher: Man kann auch eine Transformation hinbekommen, wenn man nicht aus der Gesundheitspolitik kommt.  

In der Ärzteschaft war Ulla Schmidt eher unbeliebt. Generell können Gesundheitsministerinnen und -minister nie allen Interessengruppen im System gerecht werden. Das Ressort gilt nicht umsonst als Haifischbecken. Wie gehen Ministerinnen und Minister damit um, dass Interessengruppen mit konträren Zielen an ihnen zerren? 

Das ist eine spannende Frage, weil wir uns in einer ähnlichen Situation befinden wie damals. Die Zeit war geprägt von einem hohen Kassendefizit, der Realität steigender Beitragssätze und dem damals noch stärker vorherrschenden Paradigma, die Lohnnebenkosten so niedrig wie möglich zu halten. In den 2010er-Jahren hatten wir hingegen hohe Kassenüberschüsse, was für die beteiligten Minister sehr angenehm war. Aber in den 1990ern und zu Beginn der 2000er wurde eine bestimmte Strategie als erforderlich angesehen, um Strukturreformen gegen die einflussreichen Verbände durchsetzen zu können: Man hat bei Reformen vorab auch die Oppositionsparteien ins Boot geholt, um Gesetze mit breitem Konsens umsetzen zu können. 

Das Gesundheitsstrukturgesetz 1992 hat Seehofer nicht nur mit der Union und der FDP geschaffen, sondern er hat auch die SPD ins Boot geholt. Daran konnten die Verbände quasi nicht mehr rütteln. Ähnlich war es beim GKV-Modernisierungsgesetz 2003. Da war es eine rot-grüne Bundesregierung, die in Verhandlung mit der CDU einen Gesetzesentwurf erstellt hat. Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 entstand unter einer Großen Koalition und fußte damit ebenfalls auf einer breiten Mehrheit.

Meinen Sie, diese Strategie könnte sich jetzt wieder durchsetzen, auch wenn Koalitionen mittlerweile zerstrittener und fragiler erscheinen als in früheren Jahren?

Naja, die Koalition hat auch eine Einigung zum Sondervermögen hinbekommen, obwohl die Union das im Wahlkampf abgelehnt hat. Es ist für die bundesrepublikanische Geschichte typisch, dass große Reformen durch breite Mehrheiten beschlossen werden, auch unter Einbeziehung der Opposition. Lauterbach war mit seiner zunächst wenig abgestimmten Krankenhausreform eher eine Abweichung vom Muster. Wie es in der Gesundheitspolitik weitergeht, ist natürlich spekulativ. Schwarz-Rot hat zur Reform der GKV erst einmal die Bildung einer Kommission angekündigt, die auch die Sozialpartner bzw. Verbände umfassen soll. Man wird sehen, ob man hier zu einer Einigung kommt oder ob Schwarz-Rot am Ende doch wieder die Reformstrategien der Vergangenheit herauskramen wird.

Neben dem BMG, das Gesetze erarbeitet, hat auch der Gemeinsame Bundesausschuss einen großen Gestaltungsspielraum. Was bedeutet das für Ministerinnen und Minister?

Häufig werden Probleme an Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitiker herangetragen, die sie gar nicht unmittelbar lösen können, weil es Aufgabe der Selbstverwaltung ist. Der Gemeinsame Bundesausschuss versammelt viel Expertise in seinen Reihen und erfüllt damit Aufgaben, die das Ministerium selbst in diesem Umfang wahrscheinlich gar nicht leisten könnte. Einerseits kann die Politik einen Vorteil daraus ziehen, gewisse Entscheidungen an die Selbstverwaltung auszulagern, weil man dann nicht die direkte Verantwortung dafür hat. Andererseits war es in der Vergangenheit manchmal ein Problem, dass die Selbstverwaltung ihre eigenen Interessen bediente und Strukturprobleme nicht anging. Wie die Ministerinnen und Minister damit umgehen, ist ganz unterschiedlich. Die Strategien reichen vom eher konfrontativen Kurs Lauterbachs bis hin zu konsensorientierterem Vorgehen.

Interview: Isabel Aulehla

Simon Bogumil-Uçan: Doktorand an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg, Mitarbeiter der Grünen im Landtag NRW Simon Bogumil-Uçan: Doktorand an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg, Mitarbeiter der Grünen im Landtag NRW © privat