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Neupatientenregelung gestrichen Mehr Wertschätzung und Geld gefordert

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

Durch die Streichung der Neupatientenregelung entstehen der GKV „jährlich Minderausgaben in einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag“. Durch die Streichung der Neupatientenregelung entstehen der GKV „jährlich Minderausgaben in einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag“. © Robert Poorten– stock.adobe.com
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Enttäuschung bei den Vertretern von KVen und Ärzteverbänden wegen der Abschaffung der Neupatientenregelung durch die Ampel. Mit weiteren Protesten soll Versicherten und Politikern klar gemacht werden, dass die 100.000 Praxen mehr Wertschätzung verdienen. Sonst drohen GKV-Patienten längere Wartezeiten und Anreisewege.

Die Honorarzuschläge für rasche Terminvermittlungen, die die Ampelparteien noch kurz vor der Verabschiedung im Bundestag ins GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) schrieben, um die Niedergelassenen über die Streichung der 2019 eingeführten Neupatientenregelung hinwegzutrösten, helfen nicht. KBV-Chef Dr. Andreas ­Gassen sieht darin „bestenfalls einen Tropfen auf den heißen Stein“.

Dr. Annette Rommel, Vorsitzende der KV Thüringen, spricht von „Augenwischerei“. Die Zuschläge (siehe Tab.) kompensierten „nicht ansatzweise“ die ab 2023 wieder budgetierte Vergütung für die Behandlung von Patienten, die in der jeweiligen Praxis erstmals oder nach mehr als zwei Jahren vorstellig werden. Fürs erste Quartal 2022 ermittelte das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung 27,1 Mio. Neupatientenfälle und im Gesamtjahr 2021 rund 101,1 Mio. Fälle.
 

Zuschläge für vermittelte Behandlungen ab 2023 gemäß GKV-FinStG

Behandlung* erfolgt nach der TSS-Terminvermittlung

Zuschlag zur Versicherten- bzw. Grundpauschale 

Fachärzte können den Zuschlag auch abrechnen, wenn der Termin vom Hausarzt** vermittelt wurde

im Akutfall 
spätestens am Folgetag

200%

-

spätestens am 4. Tag

100%

ja

spätestens am 14. Tag

80%

ja

spätestens am 35. Tag

40%

ja

TSS = Terminservicestelle der KV, * Die Behandlung wird weiterhin extrabudgetär vergütet., ** Hausärzte erhalten für die kurzfristige Vermittlung zum Facharzt 15 Euro.

Quelle: KBV

Ergänzende Nachjustierung zur offenen Sprechstunde

Der Gesetzgeber bleibt bei der Bezifferung des Effekts vage: Durch die Streichung der Neupatientenregelung entstünden der GKV „jährlich Minderausgaben in einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag“. Und durch die Bereinigung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung um die Vergütung, die für Leistungen in der offenen Sprechstunde extrabudgetär gezahlt wird, würden „jährlich GKV-Ausgaben für doppelt finanzierte Leistungen in nicht-quantifizierbarer Höhe vermieden“.

„Von dem prognostizierten GKV-Defizit in Höhe von etwa 20 Euro pro Monat pro versicherter Person lassen sich mit dieser Maßnahme gerade einmal 45 Cent abfedern“, schreibt die KV Thüringen in einer Pressemitteilung. „Wir reden von einer symbolischen Sparmaßnahme im Sinne der GKV-Finanzen, die die Patientenversorgung unnötig verschlechtert“, meint KV-Chefin Dr. Rommel.

Die 45 Cent kommen zustande, wenn man das Volumen der Neupatientenregelung mit 400 Mio. Euro ansetzt und durch die Zahl der gesetzlich Krankversicherten (73 Mio.) und die zwölf Monate eines Jahres teilt. Die 17 Mrd. GKV-Defizit 2023 ergeben bei dieser Rechnung einen Monatsbetrag von 19,40 („etwa 20“) Euro pro Versicherten.

Zum Vergleich: Ausweislich des KBV-Honorarberichts betrug die Gesamtvergütung im Pandemie-Jahr 2020 (ein Jahr mit 92,8 Mio. Neupatientenfällen und einem um 1,52 % erhöhten Orientierungspunktwert) 42,7 Mrd. Euro bzw. 48,50 Euro pro Versicherten und Monat.

Die „symbolischen“ 45 Cent bringen allerdings viele Niedergelassene auf die Palme. Kaum hatte KBV-Chef Dr. Gassen seine Erwartung kundgetan, „dass es in den nächsten Wochen zu weiteren Protesten gegen die Streichung der Neupatientenregelung und die damit verbundenen Folgen für die Versorgung der Patientinnen und Patienten kommen wird“, da gab es auch schon erste Ankündigungen. 

Aufruf zu „großflächigen Praxisschließungen“

Die KV Hessen wies auf „großflächige Praxisschließungen“ am 26. Oktober hin. Am 30. November soll es einen weiteren über die Berufsverbände organisierten Protesttag geben. Die Proteste „richten sich gegen die aktuelle Gesetzgebung und die geringschätzende Haltung des Bundesgesundheitsministers sowie der Ampelkoalition aus FDP, SPD und Grünen gegenüber der ambulanten Versorgung sowie gegen die fortlaufenden Entgleisungen des GKV-Spitzenverbandes.“ Die KV-Vorstände  Frank Dastych und Dr. Eckhard Starke fordern die KV-Mitglieder auf, ein Zeichen zu setzen: „Wir sind die Rolle derjenigen leid, die wenn es darauf ankommt, immer liefern (sollen), beim (finanziellen) Dank aber konsequent vergessen werden.“ 

Drastisch und stark formuliert der Vorstand: „Auch die, die sich immer noch an der Seite ihrer Patienten sehen, müssen sich hinterfragen, was das denn bitte schön für Patienten sind, die jedes noch so unterirdische Ärzte-Bashing laut johlend und begeistert bejubeln. Je mehr Sozialneid, desto besser. Und auch altruistisches ,Gutmenschentum‘ muss man sich leisten können. Nach diesen Gesetzesänderungen können wir das nicht mehr.“ 

In einer unter Berufsverbandsvertretern zirkulierenden E-Mail mit Informationen und Materialien zu den Protesten am 26.10. und 30.11. schreibt ein Hausarzt „stellvertretend für die verfasste Vertragsärzteschaft in Hessen“: „Die Teilnahme am Protesttag ohne Vertretungsregelung kann nicht empfohlen werden. Bitte bedenken Sie aber auch, dass Sie nicht verpflichtet sind, Praxisschließungen von nur einem Tag an die KV zu melden. Und: Auch Fahrtstrecken von 50 km zu einer Vertretungspraxis sind zumutbar. So gewöhnen sich die Patienten gleich daran, wie es ist, wenn unsere Proteste kein Gehör finden.“

Die Kollegen werden aufgefordert, die Aktion durch weitere Maßnahmen zu unterstützen, z.B.: „Keine Meldungen von freien Terminen an die Terminservicestelle! Strenger Aufnahmestopp für alle Neupatientinnen und Neupatienten, natürlich mit Ausnahme akuter Notfälle. Erreichbarkeit reduzieren (falls Sie überhaupt noch erreichbar sind), Anrufbeantworter besprechen!“

Kostendämpfung bei Arzneien

Das GKV-FinStG „ändert die Geschäftsgrundlage der pharmazeutischen Industrie in Deutschland grundlegend“, meint Han Steutel, Präsident des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa). Allein die Erhöhung des Herstellerrabatts für 2023 um 5 Prozentpunkte entspricht laut vfa zusätzlichen 1,3 Mrd. Euro. Weitere Änderungen betreffen u.a. die Preisbildung bei neuen Medikamenten, die keinen oder nur einen geringen Zusatznutzen haben, sowie die rückwirkende Geltung des Erstattungsbetrags ab dem siebten (bisher 13.) Monat. Das seit 2010 bestehende Preismoratorium für Arzneimittel, die keinem Festbetrag unterliegen, wird bis Ende 2026 verlängert.

Der vfa rechnet damit, dass die Produktion der Pharmaindustrie in Deutschland im kommenden Jahr um 2,9 % zurückgehen wird, nach einem Produktionsplus von 0,8 % im laufenden Jahr.

Kassen fordern Reformen auf der Ausgabenseite

Auch andere Standesvertreter äußern sich kritisch. „Die fehlenden finanziellen Mittel in der ambulanten Patientenversorgung, eine seit 30 Jahren bestehende Budgetierung, eine völlig inadäquate Gebührenanhebung von 2 % für das kommende Jahr bei massiven Kos­tensteigerungen und hoher Inflationsrate werden das Praxissterben weiter beschleunigen. Dies wird lange Wartezeiten und sehr weite Wege für unsere Patientinnen und Patienten zur Folge haben,“ warnt Dr. Andreas Bartels, KV-Vize von Rheinland-Pfalz. Und SpiFa-Chef Dr. Dirk Heinrich meint: „Dieses Gesetz löst keine Probleme. Es mag die Finanzlage der Krankenkassen im kommenden Jahr stabilisieren, das Gesundheitswesen selbst hingegen wird geschwächt.“

Die Krankenkassen finden das Gesetz aus Sicht der Beitragszahler ebenfalls enttäuschend. Ulrike Elsner, Chefin des Ersatzkassenverbandes, begrüßt allerdings, dass das Bundesgesundheitsministerium bis Ende Mai 2023 Empfehlungen für eine große GKV-Finanzreform auszuarbeiten hat. Sie rät, das „Augenmerk auf die Ausgabenseite“ zu legen: „Strukturelle Reformen der ambulant-stationären Versorgungsstrukturen sind überfällig.“ Unisono fordern die Kassenverbände eine kostendeckende Finanzierung der ALG-II-Empfänger und die Absenkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel auf 7 %. Allein diese beiden Maßnahmen würden laut AOK-Bundesverband die GKV um 15 Mrd. Euro entlasten.

Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) kündigt Strukturreformen im kommenden Jahr an. Er sieht das GKV-FinStG positiv: „Trotz eines historisch großen Defizits haben wir Leistungskürzungen verhindert und lassen die Zusatzbeiträge nur begrenzt steigen.“ Die höheren Honorare für schneller zustande kommende Arzttermine seien ein wichtiger Schritt zum Abbau der Zwei-Klassen-Medizin.

Medical-Tribune-Bericht

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