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Nach jahrelangen Missbrauchsvorwürfen: Berliner HIV-Experte vor Gericht

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Der Angeklagte wurde zuvor als mutiger und engagierter „HIV-Papst“ gelobt. (Agenturfoto) Der Angeklagte wurde zuvor als mutiger und engagierter „HIV-Papst“ gelobt. (Agenturfoto) © RedUmbrella&Donkey – stock.adobe.com
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Vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten muss sich derzeit ein renommierter HIV-Experte verteidigen. Dem Arzt, der seine Praxis vor mehr als 25 Jahren in einem schwulen Szene­kiez eröffnete, wird sexueller Missbrauch an seinen ­Patienten vorgeworfen.

Der Allgemeinarzt soll in den Jahren 2011 bis 2013 in fünf Fällen Patienten bei körperlichen Untersuchungen sexuell missbraucht haben. Das Interesse von Journalisten an der Verhandlung ist enorm, doch aus Pandemiegründen hat das Losverfahren über die sechs Zuschauerplätze entschieden.

In der Anklageschrift ist von unaufgeforderten Umarmungen durch den Arzt die Rede, wie „rbb24“ berichtet. Der Mediziner soll versucht haben, Patienten zu küssen, und soll sie ohne erkennbaren Grund oder nähere Erklärung aufgefordert haben, sich vollständig zu entkleiden. Den Angaben nach machte er auch Patienten Komplimente über ihre Geschlechtsteile, was diese unangenehm empfanden.

In einigen Fällen, so die Staatsanwaltschaft, soll der Arzt den Männern so lange ihre Prostata massiert haben, bis sie davon eine Erektion erhielten, um dann gleichzeitig den Penis der Männer bis zum Samenerguss zu massieren. In einem Fall soll der Arzt sich selbst entblößt haben, in einem anderen sei vor der Untersuchung der Behandlungsraum abgeschlossen worden.

Schon seit Jahren wird in der schwulen Szene über Übergriffe des Arztes geredet. Auch das Magazin „Buzzfeed“ hatte 2019 darüber berichtet, erhielt aber auf Betreiben des Anwalt des Arztes einen gerichtlichen Maulkorb verpasst.

Gekürzter und aktualisierter Bericht ist online verfügbar

Der nach wochenlangen Recherchen entstandene, 15 Seiten lange Text durfte nicht öffentlich bleiben. In diesem hatten zahlreiche Mitarbeiter queerer Organisationen berichtet, von ähnlich gelagerten Vorwürfen des Arztes zu wissen.

Der Artikel „Hinter verschlossener Tür“ von Juliane Löffler und Thomas Vorreyer blieb wegen der rechtlichen Auseinandersetzung mit dem Arzt 19 Monate lang offline. Jetzt ist er in gekürzter und aktualisierter Version zu lesen. Adam, Mark und Christopher beschreiben darin ihre sehr persönlichen Erlebnisse. Das Berliner Kammergericht hat den Artikel letztlich als im Wesentlichen zulässig erachtet.

Der Arzt soll demnach seine Vertrauensposition systematisch ausgenutzt haben und sich Opfer in besonders verletzlichen Situationen gesucht haben, unter jungen, schwulen oder bisexuellen Männer, die befürchteten, sich mit HIV infiziert zu haben, Männer ohne deutschen Pass und ohne Krankenversicherung. Mehr als 30 Personen hätten von mutmaßlichen Übergriffen und sexualisierter Gewalt durch den Arzt berichtet – in Facebook-Kommentaren, Online-Bewertungen, rechtlichen Verfahren.

„In nahezu jedem Gespräch, das wir geführt haben, haben wir von weiteren möglichen Betroffenen erfahren“, schreiben die Autoren. Der Arzt sei mit einem umfangreichen Fragenkatalog konfroniert worden, geantwortet habe er nicht. Per Anwalt habe er aber mitteilen lassen, dass sich aus den Schilderungen keine konkreten Patienten erkennen ließen, „unbeschadet der Tatsache, daß diese Schilderungen unzutreffend sein müssen“. Es hätten keine Untersuchungen mit sexueller Motivation stattgefunden, zitieren die Autoren, sondern bei diesen Vorwürfen handele es sich um Falschbehauptungen, die unter anderem von Neidern orchestriert wurden.

Gerichtsentscheidung soll Verjährung zuvorkommen

Vor dem Amtsgericht muss sich der Arzt – von Befragten gegenüber den Autoren des Artikels auch als „HIV-Papst“ bezeichnet und als mutig und engagiert gelobt – nun den Vorwürfen stellen. Er bestreitet diese laut einer Stellungnahme entschieden.

2013 hatten sich fünf Betroffene an die Ärztekammer gewandt, um Hilfe zu erhalten. Ausgehend davon nahm die Staatsanwaltschaft 2014 Ermittlungen auf. 2016 wurde Anklage erhoben. Verhandlungsbeginn war am 19. April 2021, bis Juni sollen zahlreiche Sitzungstermine folgen. Unter Delikt heißt es im Terminplan: sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses.

Einige Hilfsorganisationen seien „geradezu wütend angesichts der langen Bearbeitungszeiten des Falls“, heißt es bei „rbb24“. Der Präsident des Amtsgerichts Tiergarten habe erklärt, dass die Hauptverhandlung so terminiert sei, dass mit einem Urteil gerechnet werde, bevor es zu Verjährungen komme. Die Berliner Ärztekammer soll bereits seit 2012 von den Vorwürfen Kenntnis gehabt, aber auf die Zuständigkeit der Approbationsbehörde verwiesen haben.

Mit einem Urteil wird für den 14. Juni gerechnet. Verhandelt wird vor einem sog. erweiterten Schöffengericht, das heißt auf der Richterbank sitzen zwei Berufsrichter und zwei Schöffen.

Medical-Tribune-Bericht

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