Anzeige

Pauschalen und Prüfzeiten kein endgültiges Indiz für Falschabrechnung

Abrechnung und ärztliche Vergütung , Kassenabrechnung Autor: Anouschka Wasner

Krankschreibungen für wenige Tage könne man oft auch direkt am Tresen ausstellen, meinte ein Hausarzt. Krankschreibungen für wenige Tage könne man oft auch direkt am Tresen ausstellen, meinte ein Hausarzt. © Bernd Leitner – stock.adobe.com
Anzeige

Immer wieder hatte ein Hausarzt bis weit über 100 Mal am Tag die Versichertenpauschale berechnet. Die KV reagierte mit Honorarabzug, der Arzt klagte dagegen. Das Urteil in erster Instanz öffnet eine interessante Perspektive auf Pauschalen und Prüfzeiten.

Genau 336.268,58 Euro sollte ein Hausarzt aus Berlin zurückzahlen, weil die KV seine Vergütung aus elf Quartalen zwischen 2012 und 2015 auf den Fachgruppendurchschnitt gekürzt hatte. Er habe die erforderlichen Leistungen für die Abrechnung der Versichertenpauschale nicht erbracht. Was war passiert?

In den strittigen Quartalen arbeitete der seit 1978 praktizierende Hausarzt allein, die Patienten konnten ohne vorherige Terminvereinbarung in die Praxis kommen. Seine Sprechstundenorganisation bestand darin, die Patienten bis in den Hausflur hinein anstehen zu lassen und sie in der Reihenfolge ihres Erscheinens am Empfang zu behandeln. Nur bei besonderem Bedarf ging er mit Patienten auch mal in den Behandlungsraum. Krankschreibungen für ein bis drei Tage wegen Übelkeit oder Erkältung könne man schließlich auch am Tresen ausstellen, begründete der Arzt seine Vorgehen. 

Über die Jahre hinweg optimierte er dieses System offensichtlich: Waren es 2012 im Quartal nur zwei bzw. vier Tage, an denen er über 100 Patienten behandelte, erreichte er 2014 solche Spitzenwerte schon an 18 Tagen, und knackte schlussendlich 2015 sogar die 200er Marke. Allerdings verzeichnete er an anderen Tagen teils nur 20 oder 30 Patienten.

Das Aufgreifkriterium von 780 Stunden pro Quartal hatte er auf jeden Fall erreicht und auch überschritten. Und selbst bei Einberechnung einer Samstagssprechstunde befand die KV, dass die hohe Abrechnungsfrequenz der Versichertenpauschale inplausibel sei. Im Vergleich zu anderen Berliner Hausärzten habe er an manchen Tagen bis zum Vierfachen mehr an Patientenpauschalen abgerechnet. An einem Tag, an dem er 171 Mal die Versichertenpauschale abgerechnet habe, hätten ihm ca. 2,5 Minuten pro Patient zur Verfügung gestanden. Bei diesem hohen Patientenaufkommen könne dem Leistungsinhalt nicht vollständig entsprochen worden sein. Die bloße zeitgleiche Anwesenheit von Arzt und Patient sei nicht ausreichend für diese Leistung, es brauche eine direkte Interaktion zwischen Arzt und Patient und damit einen bilateralen Informationsausstausch.

Der Arzt argumentierte: Der Arzt- Patienten-Kontakt werde im EBM nicht als „bilateraler Austausch“ beschrieben, der EBM spreche lediglich von „Interaktion“, ohne diese weiter zu beschreiben. Er habe die Patienten nach ihrem Befinden und dem Anlass ihres Besuchs gefragt und die Antwort dann in eigene Überlegungen zum weiteren ärztlichen Vorgehen münden lassen. Dafür habe er im Schnitt etwa fünf Minuten pro Patient benötigt. Organisatorische Aufgaben habe er an anderen Tagen erledigt. Und er habe tageweise bis zu 14 Stunden gearbeitet.

Nur der Arzt-Patienten-Kontakt ist obligatorisch

Die Kammer des Sozialgerichts gab in weiten Teilen dem Arzt Recht, zumindest was die Quartalsüberschreitung betrifft. Auffälligkeiten durch Überschreitungen der Quartalsprüfzeiten würden nicht automatisch darauf hinweisen, dass Leistungen nicht ordnungsgemäß erbracht worden seien. Die KV müsse erst prüfen, ob sich die Auffälligkeiten zugunsten des Arztes erklären lassen. 

Die Argumentation des Arztes sei durchaus plausibel. Denn in der quartalsbezogenen Versichertenpauschale seien diverse Leistungen enthalten, die keineswegs alle zum Zeitpunkt der Abrechnung erbracht werden müssen. Bis auf den Arzt-Patienten-Kontakt handele es sich dabei nicht um obligatorische Abrechnungsvoraussetzungen. Nach Auffassung des Gerichts stoßen damit die Quartalsprofilzeiten bei Pauschalen, die derart viele fakultative Leistungen umfassen, als Indiz für eine Falschabrechnung an ihre Grenzen. 

Rechtsanwältin Isabel Böhm der Kanzlei Broglie & Schade, Wiesbaden, bestätigt, dass die Prüfzeiten von Leistungspauschalen wie etwa der Versichertenpauschale zwar am Tag der Abrechnung in den Zeitprofilen auftauchen, aber nicht vollständig einem bestimmten Tag zugeordnet werden können, da Pauschalen mehrere Einzelleistungen abdecken, die auch an anderen Tagen des Quartals erbracht werden können. Deswegen werden solche Ziffern auch nur im Quartalsprofil berücksichtigt. 

Interessant sei aber insbesondere die Aussage des Gerichts, dass die komplette Prüfzeit der Pauschale eigentlich nicht zu Prüfzwecken herangezogen werden kann, da sie nicht-obligatorische Leistungen enthalte, sodass nicht jeder Abrechnung der Versichertenpauschale der gleiche Leistungsumfang zugrunde liege. Hier müsse man sehen, wie sich das auf andere Pauschalen übertragen lässt, so Böhm. Zu berücksichtigen sei aber, dass die Versichertenpauschalen damals keine Kalkulationszeiten vorgesehen haben.

AU ohne Untersuchung? Steht hier nicht zur Debatte!

Im Weiteren warf die KV dem Arzt auch vor, er sei seiner Dokumentationspflicht nicht nachgekommen und er habe seine vertragsärztlichen Pflichten verletzt – für die Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit sei eine körperliche Untersuchung nötig. Außerdem sei eine AU-Bescheinigung unzulässig rückwirkend ausgestellt worden. Das Sozial­gericht widersprach all dem nicht. Aber es wollte dieses Spiel auch nicht mitspielen. Diese Punkte seien nicht streitgegenständlich. Die Frage sei gewesen, ob die KV zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung berechtigt gewesen sei – und das habe das Gericht geklärt. 

Schade nur, dass die KV das so nicht stehen lassen kann. Das Verfahren liegt bereits bei der nächsten Instanz.

Quelle: SG Berlin, 29.7.2020, Az.: S 83 KA 101/18

Medical-Tribune-Bericht

Anzeige