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KBV-Forderungskatalog Ärzteschaft fühlt sich von Politik allein gelassen

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

„Fakt ist: Die ambulante Versorgung in Deutschland steht auf dem Kipppunkt“, stellt die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung Dr. Petra Reis-Berkowicz fest. „Fakt ist: Die ambulante Versorgung in Deutschland steht auf dem Kipppunkt“, stellt die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung Dr. Petra Reis-Berkowicz fest. © VectorMine – stock.adobe.com
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6.000 nicht besetzte Arztsitze, Personalmangel, frustrierte Praxisteams, Investoren, die mit ihren MVZ das ambulante Gesundheitswesen umkrempeln, eine Politik, die zu wenig Unterstützung verheißt. Es sieht schlecht aus für die Patienten, warnen KBV und KVen. Der Bundesgesundheitsminister soll endlich Hürden abbauen und für eine auskömmliche Finanzierung sorgen. Sonst wird der Protest lauter werden.

„Wir haben viel zu lange hingenommen, dass uns die Gesundheitspolitik in Berlin am ausgestreckten Arm verhungern lässt“, moniert Hessens KV-Vize Armin Beck. „Damit ist jetzt Schluss.“ Ein Wegducken und Herausreden von Prof. Karl Lauterbach werde nicht mehr akzeptiert, unterstreicht der Hausarzt. Der Minister sei nun unmissverständlich aufgefordert, die auf der Berliner KBV-Krisensitzung beschlossenen Forderungen umzusetzen – andernfalls drohe der Kollaps der Praxen.

„Fakt ist: Die ambulante Versorgung in Deutschland steht auf dem Kipppunkt“, stellt die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung Dr. Petra Reis-Berkowicz fest. Es gehe darum, eine nicht mehr rückgängig machbare Veränderung des Gesundheitswesens zu verhindern. Hierzulande wenden sich die Versicherten eine Milliarde Mal im Jahr ratsuchend an ihre niedergelassenen Haus- und Fachärzte sowie Psychotherapeuten, sagt die Hausärztin. Doch wer versorgt sie künftig?

Ein historischer Tag für die ambulante Versorgung

„Es wird ein langsames Sterben sein. Der Nachwuchs wird nicht einsteigen“, prognostiziert KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister. Und die großen MVZ-Ketten lieferten nicht die gleiche Versorgung. „Am Ende wird eine katastrophal lückenhafte ärztliche und psychotherapeutische Versorgung stehen.“

Es sei denn, die Digitalisierung flutscht, bürokratische Hemmnisse, inklusive Wirtschaftlichkeitsprüfungen, werden rasiert und alle Leistungen – auch welche, die bislang noch in Kliniken üblich sind – werden aus Beitrags- und Steuermitteln ohne Abstriche, inflationsgemäß pronto bezahlt (siehe Kasten).

Sieben Brücken sind zu bauen

Der KBV-Forderungskatalog beinhaltet:

  • Inflation und Kostensteigerungen sind in den Honorarvereinbarungen unmittelbar zu berücksichtigen
  • Abschaffung der Budgets: Alle Leistungen in jeder Arztgruppe werden mit den vollen EBM-Preisen bezahlt.
  • Ambulantisierung jetzt umsetzen – mit gleichen Spielregeln für Krankenhäuser und Praxen
  • Digitalisierung mit nutzerfreundlicher, funktionstüchtiger, finanzierter Technik, datengestützte Patientensteuerung in ärztlichen und psychotherapeutischen Händen belassen
  • Weiterbildung schwerpunktmäßig in der ambulanten Versorgung verorten mit tragfähiger Finanzierung für alle Fachgruppen
  • weniger Bürokratie
  • Weg mit den Arzneimittelregressen!

Im Detail: kbv.de/html/praxenkollaps.php

„Auch das Bundesfinanzministerium ist gefordert, mit einem angemessenen Zuschuss aus Bundesmitteln eine solide Finanzierung des Solidarsystems zu gewährleisten und dringend notwendige Reformvorhaben nicht auszubremsen“, betont der Bundesvorsitzende des Haus­ärzteverbandes Dr. Markus Beier.

Jedoch: Der Gesundheitsetat im Bundeshaushalt spricht nach den Coronajahren eine andere Sprache. Er soll 2024 um 8 Mrd. Euro bzw. ein Drittel niedriger ausfallen. Dabei warten die Kassen z.B. weiterhin auf die versprochenen kostendeckenden Zuschüsse für Bürgergeldempfänger.

Politik und Krankenkassen versuchten, „den Ärzten und Psychotherapeuten zu unterstellen, ihnen ginge es nur darum, persönlich mehr verdienen zu wollen“, ärgert sich John ­Afful. Diesen „Schwachsinn“ mag Hamburgs KV-Chef aber „nicht mehr hören“. Es sei doch so: „Die Versorgung wird durch die Politik kaputtgespart.“

So oder so ähnlich äußerten sich viele KBV- und KV-Vertreter an dem „bewegenden“ bis „historischen Tag für das ambulante Gesundheitssystem“ im Hotelsaal. Die KVen sparten auch nicht an Pressemitteilungen, um die sieben Forderungen in die Welt tragen.

„Die Einlösung dieser Forderungen würde zu übermäßigen Ausgaben der GKV nicht zuletzt wegen absehbarer sachfremder Leis­tungsmengenausweitung führen, sie würde aber kein Strukturproblem lösen. Diese sind auch durch die Politik der KVen mitverur­sacht“, bürs­tet ­Michael Janßen, Vorstandsmitglied des Vereins demokratischer Ärzt*innen gegen den Strich der Funktionäre. „Alle Jahre wird mit großem Aufwand von der KBV das Ende der ambulanten Versorgung beschworen, wenn die Kassen und das BMG nicht sofort mehr Geld und Budgetfreiheit zusagen.“

Tatsächlich darf man sich fragen, ob hier wieder einmal mit großem Getöse die Gesetzgebung samt der Honorarverhandlungen begleitet wird und ab welchen Zugeständnissen sich die Gemüter beruhigen.

Wie geht es weiter?

Die Krisensitzung sollte laut KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister zeigen: Hier geht es nicht um das Klagen einiger Funktionäre in Berlin, sondern um die gesamte ärztliche und psychotherapeutische Selbstverwaltung samt Berufsverbände. Sie stehen zusammen und sagen: „So kann das nicht weitergehen.“

Prof. Lauterbach wurde eine Frist bis zum 13. September gesetzt, um sich zu den sieben Forderungen zu äußern. Am 15. September ist wieder KBV-Vertreterversammlung. Dann werden Vorstand und Delegierte die Reaktionen besprechen. Einfluss dürfte auch die Festlegung des Orientierungspunktwertes für 2024 haben; die Startangebote (KBV 10 %, GKV 2 %) lagen weit auseinander.

Der Bayerische Facharztverband vermutet, dass die Krisensitzung  mangels konkret ausgesprochener  Konsequenzen ohne positive Resonanz des Gesundheitsministers bleiben wird. Auch der Bundesvorsitzende des Virchowbundes, Dr. Dirk Heinrich, fand die erste Reaktion von Prof. Lauterbach „erschütternd“. Dieser singe das Lied der Krankenkassen, wenn er verkünde, es sei nicht das Einkommen, das die ambulante Versorgung gefährde, sondern Bürokratie und Mängel bei der Digitalisierung. Selbst die im Koalitionsvertrag vereinbarte Entbudgetierung der Hausärzte qualifiziere er nur noch als „denkbar“ ab.

Wie lässt sich der Druck erhöhen?

Der Virchowbund hat zusammen mit weiteren Gruppierungen die Kampagne „Praxis in Not“ lanciert. Diese soll den Rahmen „für regionale und fachspezifische Proteste in den nächsten Wochen und Monaten“ bilden. Erster Aktionstag mit „Praxisschließungen, Informationsveranstaltungen und regionalen Demonstrationen“ könnte Montag, der 2. Oktober werden. Die Webseite liefert Materialen und Anregungen für Protestformen wie Dienst nach Vorschrift, Straße besprühen oder Fax-/E-Mail-Flut.

Auch KBV-Vize Dr. Hofmeister weiß, dass die Probleme in den Praxen für die Bürger spürbar und fühlbar werden müssen, um politischen Handlungsdruck zu erzeugen. Sein Tipp lautet: Die Patienten über die Misere aufklären und ihnen die Kontaktdaten von Landtags- und Bundestagsabgeordneten mitgeben, damit sie dort ihre Sorge kundtun!

„Die KBV und alle KV-Vorstände haben ausnahmslos laut gebellt,  jetzt müssen sie auch liefern“, findet Wolfgang Bärtl, Vorsitzender des Bundesverbandes niedergelassener Fachärzte. Sollte diese Chance erneut vergeben werden, könne man den Kollegen nach ihren Möglichkeiten nur zum Verlassen des KV-Systems raten, um so faktisch einen Wechsel zu beschleunigen und wieder Freude am Arztberuf zu finden.

Medical-Tribune-Bericht

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