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Ansprüche gegen Kliniken: Sozialgerichte mit Klagen geflutet

Gesundheitspolitik Autor: Ruth Bahners

„Das lasse ich mir nicht noch mal bieten!“ Gesundheitsminister Jens Spahn reagierte beim Krankenhaustag verärgert auf die GKV-Klagen.
„Das lasse ich mir nicht noch mal bieten!“ Gesundheitsminister Jens Spahn reagierte beim Krankenhaustag verärgert auf die GKV-Klagen. © Messe Düsseldorf/ctillmann
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Wahnsinn oder Methode? Die Krankenkassen haben Zehntausende von Klagen gegen Abrechnungen von Krankenhäusern rausgejagt. In Rheinland-Pfalz hat sich schon das Gesundheitsministerium eingeschaltet, weil es die stationäre Versorgung gefährdet sieht.

In Rheinland-Pfalz haben die Krankenkassen laut Landessozialgericht bis zum 9. November über 15 000 Klagen bei den Sozialgerichten eingereicht – und damit deren Eingangszahlen fast verdoppelt. Das Bay­erische Landessozialgericht meldet 14 000 zusätzliche Klagen innerhalb einer Woche. Die Neuzugänge würden rechnerisch drei Sozialgerichte über ein Jahr lang beschäftigen.

Anlass für die Klagewelle ist das am 9. November vom Bundestag beschlossene Pflegepersonal-Stärkungsgesetz. Darin wurde festgelegt, dass Vergütungsansprüche der Krankenhäuser sowie Vergütungsrückzahlungsansprüche der Krankenkassen nun in zwei statt bisher vier Jahren verjähren. Das soll auch für Ansprüche der Kassen gelten, die vor 2019 entstanden sind. Eine Übergangsregelung sieht vor, dass die Kassen keine Rückzahlungsansprüche auf geleistete Vergütungen haben, wenn diese nicht vor dem 9.11.2018 (dem Tag der 2. und 3. Lesung des Gesetzentwurfs im Bundestag) gerichtlich geltend gemacht wurden.

Um die Verjährung rechtzeitig zu hemmen, haben die Kassen Sonderschichten eingelegt und ihre Klagelawine losgetreten. Einzelne Kassen sollen dem Vernehmen nach sogar Forderungen mit laufenden Vergütungen verrechnet haben, was angeblich Krankenhäuser in Liquiditätsprobleme brachte.

„Irrsinn, Starrsinn, Wahnsinn“, sagte dazu Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Eröffnung des 41. Deutschen Krankenhaustages in Düsseldorf. „Was da in den letzten zwei Wochen passiert ist, lasse ich mir nicht noch mal bieten.“

Kampf um die Abrechnung von Komplexgebühren

Ihn ärgert besonders, dass die Klagen gegen den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers eingereicht wurden. Denn mit der sofortigen Inkraftsetzung der verkürzten Verjährungsfrist sollte ja gerade verhindert werden, dass die Krankenkassen noch bis zum Jahresende zahlreiche gerichtliche Verfahren einleiten.

Gegenstand vieler Klagen ist die Abrechnung von Komplexgebühren, insbesondere zur Behandlung des Schlaganfalls und in der Geriatrie. Die Kassen berufen sich auf Urteile des Bundessozialgerichts. So hatte die Barmer im Juni 2018 ein Urteil erwirkt, wonach die Abrechnung der komplexen Schlaganfallbehandlung nur dann zulässig ist, wenn gewährleistet ist, dass der Patient binnen 30 Minuten nach der Entscheidung des Arztes in eine Neurochirurgie-Abteilung verlegt werden kann.

„Das wäre das Ende für die meisten Stroke Units gewesen“, meint die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG). Denn diese Zeiten seien gar nicht einzuhalten. Häufig dauere schon die Anforderung für den Krankentransport mit Rettungswagen oder Hubschrauber eine halbe Stunde. Zudem bräuchten nur 5 % der Schlaganfallpatienten eine Verlegung in die Neurochirurgie. Bei 95 % sei das gar nicht indiziert. „Eine solche Fristsetzung führt in der praktischen Anwendung dazu, dass die Komplexbehandlung des Schlaganfalls nur noch in Kliniken durchgeführt werden kann, die selbst über eine neurochirurgische Abteilung verfügen“, erklärt Dr. Gerald Gaß, Präsident der DKG.

Inzwischen ist Minister Spahn den Krankenhäusern zu Hilfe gekommen. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information hat rückwirkend klargestellt, dass die 30-Minuten-Frist die Zeit zwischen Rettungstransportbeginn und -ende betrifft. Das Strukturmerkmal zur Abrechnung der Komplexgebühr sei erfüllt, wenn die halbstündige Transportentfernung unter Verwendung des schnellstmöglichen Transportmittels grundsätzlich erfüllbar sei.

„Solange es Falschabrechnungen gibt, müssen die Abrechnungen geprüft werden“, erwidert Johann Magnus von Stackelberg, Vizevorsitzender des GKV-Spitzenverbands, auf den „Wahnsinn“-Vorwurfs des Ministers. Durch die Abrechnungsprüfung und -korrektur der Krankenhausrechnungen würden die Kassen jährlich ein bis zwei Milliarden Euro rausholen. Darauf könne man nicht verzichten.

„Wir müssen klagen, sonst kriegen wir Probleme mit dem Bundesversicherungsamt“, sagt Thomas Ballast, Vorstandsvize der Techniker Krankenkasse. Gegen die rückwirkende Klarstellung bei Schlaganfall „haben wir uns prinzipiell gewandt“.

Klinikträger: Kassen und MDK feiern „wahre Prüforgien“

Für die DKG hat der Wahnsinn Methode. Die Krankenkassen würden mithilfe des Medizinische Dienstes (MDK) in kleinlichster Weise versuchen, die Rechnungen der Krankenhäuser zu kürzen, und „wahre Prüforgien“ feiern. So werde zum Beispiel die Bezahlung des geria­trischen Komplexes verweigert, wenn in der Anwesenheitsliste der obligatorischen wöchentlichen Teambesprechung ein Kürzel statt der vollständigen Unterschrift auftauche.

„Den Konflikt haben wir seit Einführung der Fallpauschalen“, sagt Ballast zu den Vorwürfen. Es gebe Unsicherheiten, wie die Leistungsbeschreibungen interpretiert werden müssten. Aber 50 % der vom MDK beanstandeten Rechnungen seien tatsächlich fehlerhaft.

Fallpauschalensystem – ja, aber bitte nachvollziehbar

„Das Krankenhausabrechnungswesen ist in einem Zustand, der so nicht bleiben kann“, meint auch der Bundesgesundheitsminister. Kein Mensch mehr verstehe, was da passiere. Grundsätzlich will Spahn aber am Fallpauschalensystem festhalten. Die Selbstkostenfinanzierung, so wie sie jetzt für die Pflegekosten beschlossen wurde, sei keine besonders effiziente Verwendung von Versichertengeldern. Spahn forderte DKG und Krankenkassen auf, Alternativvorschläge zu entwickeln.

Die Gesundheitsministerin von Rheinland-Pfalz, Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD), kündigte an, eine gemeinsame Beratung aller Gesundheitsminister der Länder zu initiieren. In ihrem Beritt lädt sie Kassen und Krankenhäuser zum Runden Tisch ein – mit dem Wunsch, dass sich diese annähern und vielleicht eine außergerichtliche Einigung erzielen.

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