Anzeige

Guten Freunden gibt man kein Küsschen

Autor: Dr. Frauke Gehring

Wenn wir gelernt haben, dass Küsschen nicht für jeden hergelaufenen Bekannten sind, ist schon viel gewonnen. Wenn wir gelernt haben, dass Küsschen nicht für jeden hergelaufenen Bekannten sind, ist schon viel gewonnen. © iStock/nicoletaionescu
Anzeige

In Zeiten von Corona herrscht Stille in den Praxen. Da fragt sich unsere Kolumnistin: Wo sind denn alle? Und was machen die Patienten denn überhaupt sonst in der Praxis?

Wenn in amerikanischen Western Gottverlassenheit ausgedrückt werden soll, greifen die Regisseure gerne zu Tumbleweed. Das sind diese getrockneten Grasbüschel, die durch die verlassenen Straßen wehen, wenn alles still steht. Heute hätte ich mich nicht gewundert, wenn Tumbleweed durch unseren Praxisflur gerollt wäre. Wo sind alle?

Schon die letzten Tage war es recht ruhig, aber nun, in den Osterferien, ist es wirklich still. Vereinzelt holt einer schnell ein Rezept ab und zwei Damen mit Harnwegsinfekt habe ich gesehen. Sonst kaum jemanden. Wenn diese Kolumne erscheint, hat sich das wahrscheinlich wieder geändert, denn ich hoffe, dass die durch das Coronavirus bedingten Beschränkungen dann minimiert wurden. Aber die Frage, die mich heute umtreibt, ist nicht nur „Wo sind alle?“, sondern auch „Was machen die Leute sonst in unserer Praxis?“

Gut: DMP, Check-ups und Routineuntersuchungen haben wir abgesagt. Erkältungen gibt es so gut wie keine mehr, weil die Menschen offensichtlich vom neuen Hang zur Hygiene profitieren.

Kein „Küsschen rechts, Küsschen links“ mehr, kein Händeschütteln, kein herzhaftes Niesen in die Runde. Super, so kann es bleiben! Für mein norddeutsches Herz war die Knutscherei eh zu viel, ich halte den Kreis der Geküssten lieber exklusiv.

Coronaverdächtige haben wir nur sehr vereinzelt. Die Menschen heimwerkern nicht, treiben keinen Sport und verletzen sich daher nicht, vielleicht kommen bald noch ein paar mit Karpaltunnelbeschwerden von der Playstation. Wer sich nicht gut fühlt, kann oft ohne gelben Schein zu Hause bleiben, weil er eh frei gestellt ist, und wer den Zettel braucht, kann ihn telefonisch erhalten, wenn er seine Erkältungssymptome plausibel vermittelt.

Wer für einen Schwatz im Wartezimmer oder für ein bisschen Ansprache kam, bleibt zu Hause, und leider tun das auch die Patienten, die sich besser mal untersuchen ließen („Das ist mir jetzt zu gefährlich, Frau Doktor!“). Die Kandidaten für „Ich möchte mein Blut mal wieder untersuchen lassen“ bleiben ebenso weg wie die Hypochonder, die sich noch mehr vor dem Coronavirus als vor ihren eingebildeten Krankheiten fürchten.

Wir diktieren alles weg, die Mitarbeiterinnen feiern Überstunden ab und viel Zeit geht fürs Telefonieren oder fürs Schutzkleidungan- und -ausziehen drauf, wenn wirklich mal jemand kommt.

Aber ich sorge mich, dass ernste Krankheiten zu spät diagnostiziert und behandelt werden, weil die Patienten sich nicht in die Praxis trauen. Rettungssanitäter und Notaufnahmepersonal berichten schon von verschleppten Apoplexen und Infarkten. Ich wünsche mir, dass es hier bald wieder zu einer Normalisierung kommt! Allerdings wünsche ich mir auch, dass der Arztbesuch in Zukunft nicht so eben mitgenommen wird wie der Gang zum Bäcker („Ich dachte, ich geh nochma eben nachm Azzt hin“), sondern dass er wohl überlegt erfolgt. Dann könnten wir stressärmer arbeiten und hätten auch weiterhin die Muße, ein bisschen mehr zuzuhören und ein paar persönliche Worte mehr mit unseren Patienten zu sprechen.

Medizinische Zuwendung war definitiv zu wohlfeil in den letzten Jahren. Wenn wir gelernt haben, dass Küsschen nicht für jeden hergelaufenen Bekannten sind, dass man nicht in die Gegend hustet und einem nicht so nah auf die Pelle rückt, dass der Einkaufswagen schmerzend in der Achillessehne desVordermannes einrastet, ist schon viel gewonnen. Wenn dann noch das Gesundheitssystem weniger leichtfertig und achtlos in Anspruch genommen wird, dann hat SARS-CoV-2 neben Fluch auch Segen gebracht.

Anzeige