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Sterbehilfe-Urteil: „Danke dir, alles geschluckt“

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Vor der Urteilsverkündung im Landgericht beantwortet Dr. Turowski die Fragen der Journalisten.  Rechts: Dr. Christoph Turowski. Vor der Urteilsverkündung im Landgericht beantwortet Dr. Turowski die Fragen der Journalisten. Rechts: Dr. Christoph Turowski. © privat, Cornelia Kolbeck
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„Der Angeklagte wird freigesprochen.“ Diesen Satz haben nicht nur Dr. Christoph Turowski (68) und seine Verteidiger, sondern auch viele Zuhörer im Saal 500 des Berliner Landgerichts erhofft. Der lange Beifall für den Arzt, als dieser schließlich als freier Mann den Gerichtssaal verlässt, und viele persönliche und herzliche Worte machten die Hochachtung für den Mediziner deutlich.

„Danke dir. Alles geschluckt“, schreibt ihm seine Patientin Anja D. am 19. Februar 2013 um 12:32 Uhr per SMS. Dr. Turowski praktiziert zu dieser Zeit als Hausarzt in Berlin-Steglitz. Er ist ein ruhiger, besonnener Mediziner. Er nimmt sich Zeit für seine Patienten, seine Kartei hält er bewusst mit 600 Personen überschaubar. Viele, die er behandelt, kennt er seit Jahren oder Jahrzehnten. Schon seine Eltern waren Ärzte gewesen.

Anja D. kommt mit 31 Jahren zum ersten Mal in seine Sprechstunde. Sie leidet unter einem Reizdarmsyndrom, vermutlich ausgelöst durch ein mit Salmonellen verunreinigtes Eis, das sie mit 16 gegessen hatte. 13 Jahre begleitet er die Frau als Hausarzt. Zuletzt kommt sie regelmäßig, etwa alle zwei Wochen, in seine Praxis. Dr. Turowski ist für sie über die Jahre zu einem Vertrauten geworden. Sie erzählt ihm über all ihre Sorgen und Nöte, über zwei gescheiterte Ehen, schwierige Partnerschaften, über den Einfluss ihrer Krankheit auf das Verhältnis zu Mutter und Sohn, über ihren geliebten Beruf als Arzthelferin, den sie längst nicht mehr ausüben kann.

Lange Leidensgeschichte und mehrere Suizidversuche

Aufgeben wollte Anja D. lange nicht. Sie fand sogar die Kraft, eine Selbsthilfegruppe für RDS-Erkrankte zu gründen und zu leiten. In einem Interview sagt sie einmal: „Wir Betroffene wehren uns immer ein wenig dagegen, in die ,Psycho-Ecke‘ gestellt zu werden.“ Hier schwangen eigene Erfahrungen mit. Zahlreiche Fachärzte hatte die Frau erfolglos konsultiert, Psychotherapie und Psychoanalyse und mehrere Reha-Behandlungen lagen hinter ihr. Selbst Schmerzmittel bis hin zu Morphinpräparaten brachten ihr wegen starker Nebenwirkungen keine Linderung. „Sie hat sich an jeden Strohhalm geklammert“, erinnert sich Dr. Turowski, der seine Hausarztpraxis 2015 aus Altersgründen aufgab. Dass er Anja D., die mehrfach Sui­zidversuche unternommen hatte, letztendlich geholfen hat, aus dem Leben zu scheiden, hängt jedoch nicht nur mit der langen Leidensgeschichte seiner Patientin zusammen. Ihre Ankündigung, sich auf die Schienen legen zu wollen und ihr Hinweis, dass sie schon das Loch im Zaun zum Durchsteigen zu den Gleisanlagen gefunden hatte, riefen bei Dr. Turowski schlimme Erinnerungen wach. Bei einem Pflegepraktikum in der Notaufnahme eines Krankenhauses, noch vor dem Medizinstudium, wurde nachts ein „Schienen-Suizid“ eingeliefert. Die Retter hatten den Kopf des Toten zwischen dessen Beine gelegt und der junge Turowski musste die Trage mit dem Leichnam über den dunklen Hof bis in die Pathologie rollen. Das konnte er nie vergessen.

Neun Mal schaute er nach der Sterbenden

Es kamen noch weitere Suizidfälle hinzu, denn seine Hausarztpraxis befand sich in einem Gebäude mit 17 Geschossen. Eine Frau, die gesprungen war, hatte der Arzt selbst auf dem Fußweg liegen sehen und ein Patient wäre fast von einem Springenden erschlagen worden.   Am 18. Februar 2013 ist Anja D. 44 Jahre alt. Sie trifft die letzten Vorbereitungen für ihr Sterben. Sie zieht sich schön an, schminkt sich sorgfältig, schreibt Abschiedsbriefe an Mutter, Sohn und Freundin. Sie blickt vielleicht noch ein letztes Mal im Spiegel auf ihr Tatoo im Nacken. „No more pain“ steht hier – nie wieder Schmerzen. Wie viele Schlaftabletten sie schluckt, kann die Gerichtsmedizin später nicht eindeutig bestimmen. Es sind vermutlich zwischen 90 und 150 Stück. Dr. Turowski hat sie ihr verschrieben. Im Gegenzug händigte ihm Anja D. die Schlüssel zu ihrer Wohnung aus. Anderthalb Stunden nach Erhalt der SMS geht der Arzt erstmals zu seiner Patientin. Sie liegt bewusstlos auf ihrem Bett. Bis er in der Nacht zum 19. Februar ihren Tod feststellt, ist er insgesamt neun Mal bei ihr. Ohnmächtig, komatös, präfinal, tot, vermerkt Dr. Turowski in der Krankenakte. Um 4.30 Uhr füllt er den Totenschein aus: „Todesart: Natürlicher Tod. Todesursache: Herz- und Nierenversagen infolge von Tablettenintoxikation.“ Dass kurz danach die Kriminalpolizei klingelt und Ermittlungen aufnimmt, ausgelöst von der Mutter der Toten, hatte der Mediziner nicht erwartet. Schließlich wussten alle vom unerträglichen Leiden Anja D.s. Ihre Freundin sagte später unter Tränen für den Hausarzt aus, sie sei „zutiefst dankbar dafür, was er getan hat“. Die Krankheit habe Anjas Leben zerstört. Die Staatsanwaltschaft hatte dem Hausarzt nicht zur Last gelegt, dass er seiner Patientin die Tabletten für den Suizid besorgte. Vorgeworfen wurde ihm jedoch, dass er nicht den Notarzt rief, sondern stattdessen der Frau während der Bewusstlosigkeit Metoclopramid und Scopolamin gespritzt hat, um Ersticken durch Erbrechen und das sog. Todesrasseln zu vermeiden. (Dr. Turowski erklärte hierzu stets, er habe die Mittel nicht gespritzt, sie aber der Frau und Arzthelferin zur Verfügung gestellt.) Dass die Patientin „eine Medikation gewählt habe, bei der der Tod erst 58 Stunden nach der Tabletteneinnahme eintrat“, wertete die Staatsanwaltschaft zudem als Hilferuf der Patientin. „Tötung auf Verlangen durch Unterlassen“, lautete deshalb die Anklage.

Fall könnte vor dem BGH noch einmal aufgerollt werden

Die Kammer folgte dem nicht. Was den Vorwurf der unterlassenen Hilfemaßnahmen betrifft, sagte die Richterin bei der Urteilsverkündung, habe es keinen Beweis dafür gegeben, dass der Tod noch zu verhindern gewesen wäre. Einen Hilferuf könne man ebenfalls ausschließen. Der Suizid von Anja D. sei eine „frei verantwortliche Entscheidung, frei von Willensmängeln getroffen“, und Suizid sei straflos, inklusive der Beihilfe. Die dem Arzt angelastete Gabe von MCP und Scopolamin wurde vom Gericht als positives Tun und palliative Maßnahme bewertet. Einen Tag nach Urteilsverkündung sitzt Dr. Turowski in seinem Wohnzimmer, in der Hand eine Tasse Tee, gesüßt mit Honig von den eigenen Bienen. Er versucht, zur Ruhe zu kommen, doch es gelingt ihm nur schwer. Er denkt immer wieder an die Geschehnisse, die Anklage, die Fragen der Journalisten, den Freispruch. Zugleich ist er überwältigt und sehr dankbar für den großen Zuspruch, den er vor allem von Patienten nach dem Urteil erhalten hat. Besonders gefreut hat er sich über die Glückwünsche von Dr. Matthias Thöns, Autor des Buches „Patient ohne Verfügung – Das Geschäft mit dem Lebensende“, sowie von Professor Dr. Gian Domenico Borasio, Palliativmediziner und heftiger Kritiker des Sterbehilfeparagrafen 217 im Strafgesetzbuch. Wenig Resonanz kam von anderen ärztlichen Kollegen, was Dr. Turowski doch verwundert hat. Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen Revision einlegt, das heißt, der Fall wird vor dem Bundesgerichtshof (BGH) noch einmal aufgerollt. Davor fürchtet sich der Allgemeinmediziner, denn schon jetzt belasten ihn 30 000 Euro Anwaltsgebühren – die Staatskasse übernimmt trotz Freispruch nur einen Bruchteil – und ein BGH-Verfahren wird mindestens noch einmal 40 000 Euro kosten. Der Hausarzt hat für Unterstützer ein Spendenkonto eingerichtet.

Das Spendenkonto für Dr. Turowski

Postbank Berlin, IBAN DE67 1001 0010 0643 2911 24.

Sein Tun bereut er nicht, er habe nach reiflicher Überlegung gehandelt: „Ich hätte das aber auch für jeden anderen Patienten in ähnlich verzweifelter Lage getan.“ Er ist auch willens – sofern sein Fall geeignet ist – ein Grundsatzurteil zur Sterbehilfe zu erstreiten. Das 2015 beschlossene Sterbehilfeverbotsgesetz stellt Ärzte unter Strafe, die in solchen, sehr seltenen Fällen ihren verzweifelten Patienten beistehen würden. Das empfinde er als unerträglich und menschenverachtend, denn das kann Hilfesuchende in einen Gewaltsuizid treiben.
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