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Diabetes und Flugtauglichkeit Stillstand nach der Diagnose

Gesundheitspolitik Autor: Denise Lehmann

Julia Kaiser mit Fluglehrer Heinz Bernd Knauf auf dem Flugplatz in Dobenreuth (2015). Julia Kaiser mit Fluglehrer Heinz Bernd Knauf auf dem Flugplatz in Dobenreuth (2015). © Andreas Braun
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Die Freiheit über den Wolken ist nur im Schlager grenzenlos, wie Menschen nach der Diagnose eines Typ-1-Diabetes feststellen müssen. Eine Pilotin erzählt.

Julia Kaiser wusste bereits mit sieben Jahren: Sie will hoch hinaus. Zunächst als Hubschrauberpilotin, später, während der Berufsausbildung, entdeckte sie den Segelflug für sich. Vier Jahre lang ließ sie sich im Luftsportverein Lindlar zur Segelfliegerin ausbilden. 2019 bestand sie mit 28 Jahren die Prüfung und qualifizierte sich für die Segelfluglizenz. „Ein unbeschreiblicher Moment“, sagt Kaiser heute. „Mir kamen vor Freude fast die Tränen.“

Doch schon wenige Tage vor der Prüfung fühlte sie sich unwohl: Sehstörungen plagten sie, ständiger Harndrang und Durst. Da ist eine Erkältung im Anzug, dachte sie. Oder eine Grippe. Etwa eine Woche nach ihrer Flugprüfung eskalierten die Beschwerden – Halsschmerzen, Erbrechen, schwere Atemnot – und sie fand sich auf der Intensivstation wieder. Diagnose Typ-1-Diabetes. Sie verbrachte anschließend eine Woche auf der Normalstation. Auf ihrem Nachttisch türmten sich Bücher zum Segelflug. Jede Minute mit ihrem Hobby ist kostbar. Der Schock saß tief, als ihre Fliegerärztin ihr mitteilte, sie dürfe nicht länger fliegen. „Ich wusste zuerst nicht, was ich machen soll“, sagt Kaiser.

Veraltete Regeln führen zu Diskriminierung

Menschen mit Typ-1-Diabetes wird in Deutschland grundsätzlich die Flugtauglichkeit, das sogenannte Medical, aberkannt. Das hat zur Folge, dass die in bestehenden Fluglizenzen verliehenen Rechte nicht mehr ausgeübt werden dürfen. Pilot*innen mit Typ-2-Diabetes können dagegen unter bestimmten Umständen im Besitz des Medicals bleiben. „Wir halten in Deutschland an teils sehr alten Regelungen fest“, sagt Dr. Wolfgang­ ­Wagener, Vorsitzender des DDG Ausschusses Soziales. „Diese Regelungen stammen mitunter aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.“

Zwei Entwicklungen stellen diese Praxis infrage, meint Dr. Wagener. Zum einen sind Menschen mit Dia­betes heute nicht mehr pauschal auf ständige ärztliche Kontrolle und Intervention angewiesen. Sie sind in der Regel gut geschult und bewältigen das Diabetesmanagement weitestgehend in Eigenregie. Zum anderen sind Behandlung und Diabetestechnologie immens fortgeschritten – CGM-Geräte, Insulinpumpen und Closed-Loop-Systeme ermöglichen ein engmaschiges Monitoring und eine bedarfsgerechte Insulinversorgung, die ihr Übriges tun, das Risiko von Über- oder Unterzuckerung beträchtlich zu senken.

Veraltete Regelungen führen zu (beruflichem) Ausschluss und Diskriminierung. Der DDG Ausschuss Soziales erarbeitete und veröffentlichte 2017 eine AWMF-S2e-Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“, die derzeit aktualisiert wird. Ihre Handlungsempfehlungen und -protokolle bilden eine gute Grundlage, die Fahrten trotz Diabetes sicher zu gestalten und Vertrauen aufzubauen.

Versteckter Mechanismus kann Türen öffnen

Im Bereich der Luftfahrt mangelt es derzeit noch an Forschungsdaten, um die formellen Anforderungen einer Leitlinie zu erfüllen. Dr. Wagener geht jedoch davon aus, dass sichere Flüge unter Einhaltung fundierter Richtlinien auch für Pilot*innen mit Diabetes möglich sind. Beispiele aus Kanada, Israel und den USA stützen seine Annahme – dort werden Lizenzen vergeben, die Compliance hinsichtlich der Protokolle vorausgesetzt.

Die Vorgaben der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) sind für die nationalen Luftfahrtbehörden der Mitgliedsstaaten bindend und sie sehen den Ausschluss von Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes aus dem Cockpit vor. In den Vorschriften der EASA existiert allerdings auch ein Mechanismus, ARA.MED.330, der es ermöglicht, die Fluguntauglichkeit von aus medizinischen Gründen ausgeschlossenem Flugpersonal zu reevaluieren. Neue medizinische Behandlungsmethoden, Technologien und Medikamente bieten Anlass, den Mechanismus zu aktivieren.

2012 erarbeitete die britische Luftfahrtbehörde CAA das für ARA.MED.330 benötigte medizinische Beurteilungsprotokoll, das neben den Handlungsanweisungen an Pilot*innen mit Diabetes auch das geforderte Prozedere von Aufsicht, Dokumentation und Datenerhebung definierte. Die EASA genehmigte die Initiative. Es erfolgte die kontrollierte Ausgabe von Lizenzen. Neben Irland schloss sich 2016 auch Österreich dieser Initiative an. Ein Anschluss des Luftfahrt-Bundesamtes (LBA) an dieses Protokoll könnte dazu beitragen, dringend benötigte Forschungsdaten zu generieren, und böte zugleich Gelegenheit, sich dem Thema in kontrolliertem Rahmen zu nähern, Erfahrungen zu sammeln und Vertrauen aufzubauen.

Die bei dieser Initiative erhobenen Daten wurden wissenschaftlich aufgearbeitet. Die 2020 publizierte Studie „An Evaluation of the Safety of Pilots With Insulin-Treated Diabetes in Europe“ kommt zu dem Schluss, dass das in Großbritannien entwickelte Handlungsprotokoll sich als praktikabel und sicher erwies.1

Die unter ARA.MED.330 ausgegebenen Lizenzen bieten allerdings keine abschließende Lösung – sie dienen in erster Linie Forschungszwecken. Sie sind zudem limitiert, unterliegen strengen Regelungen und beschränken sich auf das Land, in dem sie beantragt und erteilt wurden.

Julia Kaiser ließ sich nicht unterkriegen. Auf ihrem Instagram-Account berichtete sie von ihrer Diagnose und darüber, was sie für ihr Hobby bedeutete. Sie erhielt Nachrichten von anderen Pilot*innen mit Typ 1.

„Horizont Europa“ öffnet neue Perspektiven

Gemeinsam starteten sie eine Petition, rührten die Werbetrommel, vernetzten sich. Ein großer Durchbruch gelang schließlich, als die Gruppe auf ein Dokument stieß, das die EASA, einmal eingereicht, bearbeiten musste. Hierin schilderten sie ihr Anliegen, führten aus, inwiefern es die Behörde betraf, nannten die entsprechenden Richtlinien. Der Antrag wurde mit Erfolg gekrönt: Im Dezember 2021 schrieb die EASA ein gefördertes Forschungsprojekt aus (s. Kasten). Bis zum 31. März 2022 nimmt die EASA Bewerbungen entgegen.

Forschungsprojekt „Horizont Europa: Flugmedizinische Arbeitsfähigkeit von Piloten und ATCOs“

  • Auftraggeber: Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA)
  • Bewerbungsfrist: 30.03.2022
  • Auftragswert Los-Nr. 3 Diabetes mellitus: 470.000,00 €
  • Laufzeit: 36 Monate
  • Referenznummer: EASA.2021.HVP.25
  • Link zur Ausschreibung: bit.ly/ ausschreibung_easa
Diese Ausschreibung befasst sich mit Forschungsvorschlägen für die Entwicklung neuer Sicherheitsstandards für Flugpersonal und Fluglots*innen. Die Los-Nr. 3 „Diabetes mellitus“ stellt folgende Fragestellungen ins Zentrum:
  • Wie ist das Risiko einer Hypo-/Hyperglyk­ämie von Piloten/ATCOs* während der Ausübung ihrer Aufgaben im Kontext medizinischer Neuerungen zu bewerten? 
  • Wird die neue Diabetestechnologie (Sensoren, automatisierte Insulinpumpen etc.) durch Kabinenumgebung und -druckänderungen in ihrer Funktion beeinträchtigt?

*Air Traffic Control Officers

Dieses Projekt kann dazu beitragen, die Flugtauglichkeit von Menschen mit Diabetes grundsätzlich neu zu bewerten und sie regelhaft in die Vergabe von Fluglizenzen einzubinden. Doch es weist auch über sich hinaus, denn nicht nur in der Luftfahrt herrschen Begrenzungen – Menschen mit Diabetes sind noch immer aus den meisten sicherheitskritischen Bereichen ausgeschlossen. Kippt ein „Embargo“, ist man auch in anderen Bereichen unter Druck, ihre Eignung neu zu beurteilen. Kaiser jedenfalls ist mit CGM-Gerät und Insulinpumpe gerüstet und bereit für einen Umschwung: „Sobald die Nachricht kommt, kaufe ich mir ein eigenes Segelflugzeug. Damit besuche ich neue Flugplätze und fliege bei Wettbewerben mit.“

1. Gillian L et al. Diabetes Care 2020; 43: 2923-2929; DOI: 10.2337/dc20-0277

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