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Praxiskolumne Wo bleibt die grundlegende Neuorientierung?

Autor: Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth

Die Gesundheitssysteme bedürfen einer Neuorientierung. Die Gesundheitssysteme bedürfen einer Neuorientierung. © Have a nice day – stock.adobe.com
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Bereits 2008 forderte die WHO die Staaten auf, die Orientierung ihrer Gesundheitssysteme stärker auf die gesundheitliche Primärversorgung auszurichten. Ohne eine grundlegende Neuorientierung sei es wahrscheinlich, dass die Gesundheitssysteme durch die zunehmenden Herausforderungen alternder Bevölkerungen, durch die starke Zunahme chronischer Erkrankungen, durch neu auftretende Erkrankungen und durch die Auswirkungen des Klimawandels überfordert würden.

Aus heutiger Sicht erscheint die damalige, nun 15 Jahre alte, Aufforderung der WHO geradezu visionär, hatten wir doch inzwischen eine neu aufgetretene Erkrankung, die unser Gesundheitssystem und uns alle die letzten Jahre herausgefordert hat. Ebenso erfordert der Klimawandel inzwischen tatsächlich Gegenmaßnahmen, Lauterbach will das Land nun mit einem „Hitzeschutzplan“ wappnen. Und das ist sicher erst der Anfang der zukünftig erforderlichen Maßnahmen gegen die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschen.

Aber wo bleibt sie, die geforderte grundlegende Neuorientierung? Immerhin in Baden-Württemberg scheint sie umgesetzt. Sofort 2008 wurde dort mit der hausarztzentrierten Versorgung gestartet, die dieses Jahr ihr 15-jähriges Bestehen feiert.

Auch dieses Mal sind die Evaluationsdaten überzeugend. Chronisch Kranke leben länger, wenn sie in einen Hausarztvertrag eingeschrieben sind, unkoordinierte Facharztkontakte werden millionenfach vermieden, weniger schwere Komplikationen bei chronisch Kranken, bessere Präventionsergebnisse, insbesondere höhere Impfquoten und mehr Vorsorgeuntersuchungen.

In der restlichen Republik nehmen die Hausarztverträge zwar auch langsam, aber sicher Fahrt auf, die magische Zehn-Millionen-Marke eingeschriebener Versicherter rückt in Sicht, aber eine konsequente Förderung dieser grundlegenden Neuorientierung der Gesundheitspolitik mit Fokussierung auf den primärärztlichen Sektor ist nicht erkennbar. 

Stattdessen liegt nun der Entwurf eines „Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune“ vor. Darin enthalten sind Vorschläge zur Errichtung von Gesundheitskiosken und Gesundheitsregionen. 

Der Schwerpunkt der Aufgaben der Gesundheitskioske soll in der Beratung liegen, um insbesondere die Navigation der Patientinnen und Patienten im Gesundheitswesen zu verbessern sowie die individuelle Gesundheitskompetenz zu erhöhen. Klassische hausärztliche Aufgaben, die die Hausarztpraxen auch erfüllen könnten, wenn man diese in ihren vorhandenen Strukturen stärken würde und endlich die Rahmenbedingungen für die hausärztliche Arbeit weiter verbessern würde, anstatt durch Gesundheitskioske und Gesundheitsregionen die Versorgung weiter zu zersplittern. Gebt den Hausarztpraxen einen Strukturzuschlag für die Sozialberatung und die Stärkung der Gesundheitskompetenz und sie können in ihren Praxen Comunity Health Nurses, Physician Assistants oder Sozialarbeiter*innen anstellen, die diese Aufgaben erledigen. Dafür braucht man keinen Kiosk zu bauen. Auch braucht es aus meiner Sicht keine Gesundheitsregionen als alternative Organisation zur Regelversorgung. Kleine Organisationseinheiten bedürfen einer zusätzlichen Bürokratie, die zusätzliche Ressourcen verschlingen wird, mit dem Effekt, dass Gesundheitsregionen zukünftig vom Leistungsinhalt und -umfang stark auseinanderdriften werden.

Dies wird zur Verstärkung sozialer Ungerechtigkeiten über die Land- und Stadtkreise führen und die Selbstverwaltung und Freiberuflichkeit nach und nach aushebeln. Am Ende wird die Gesundheit und die Gewinnung von Personal von der Qualität und der Ausstattung einzelner Gesundheitsregionen abhängen oder ein massiver zusätzlicher Aufwand zum Ausgleich dieser Fehlentwicklungen nötig sein. Warum ertüchtigen wir nicht die Strukturen, die wir haben, statt diese zu schwächen? Wir haben mit der Hausarztzentrierten Versorgung eine funktionierende, evaluierte, bedarfsgerecht steuernde und koordinierende alternative Organisationsform, in die es sich lohnt zu investieren.

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