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Praxiskolumne Long COVID kann ich nicht gebrauchen

Autor: Dr. Cornelia Werner

„Ein bisschen infiziert gibt es genauso wenig wie ein bisschen schwanger“. „Ein bisschen infiziert gibt es genauso wenig wie ein bisschen schwanger“. © DrAfter123/gettyimages
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Dass Corona den ganzen Körper betreffen kann, ist längst klar. Unsere Kolumnisten fürchtet vor allem Folgen fürs Gehirn. Eine Infektion als Schutz? Dafür hat sie kein Verständnis.

„Don’t f*ck with my brain.“ Das war einer meiner ersten Gedanken, als 2020 klar wurde, wie neurotrop SARS-CoV-2 ist. Dieser Tage hat mich jemand gefragt: „Und, wie oft hattet Ihr inzwischen COVID?“ Auf meine Antwort, dass meine Familie und ich bisher zum Glück noch verschont blieben, kam ein ungläubiges: „Noch nie?! Wie lange wollt Ihr dem noch aus dem Weg gehen?! Das ist doch anstrengend.“ Ich bin also ein Verweigerer, ein Infektionsverweigerer. So lange es nur geht.

Auf Twitter gab es Kommentare von „Fundamentalismus“ über „engstirniges Schwarz-Weiß“ bis „Extremismus“. Meine Antwort darauf: Ich habe mehr Folgen dieser Erkrankung gesehen als von sonst einer Infektionskrankheit. Und was ich sehe, will ich nicht haben. Wir haben zunehmend Patient*innen, die nicht nur ein paar Wochen im Akutinfekt ausfallen, sondern Wochen oder Monate brauchen, bis sie wieder teilweise einsetzbar sind. Einige bleiben berufsunfähig. Eine Kollegin, deren Infektion ein Vierteljahr zurückliegt, hat phasenweise Gedächtnisausfälle, sodass sie den Einkauf abbrechen muss.

Das kann ich mir als Selbstständige mit mehreren Angestellten schlicht nicht leisten. Mein Gehirn ist mein Kapital – und sollte ich je mit Neuro-COVID „gesegnet“ werden, so würde nicht nur meine Familie wirtschaftlich immense Probleme haben. Als Frau Anfang 40 wäre die „Chance“ auf Long COVID doch recht hoch.

Die ländliche Gegend, in der ich arbeite, ist generell unterversorgt. Der Kollege im Nachbarort ist plötzlich krankheitsbedingt ausgefallen. Was soll ich sagen ... Jede Schutzmaßnahme in meiner Freizeit und in der Praxis rentiert sich für mich. Und die täglich neu in der Praxis auftauchenden Long-COVID-Patienten bestätigen mich darin.

Wer dies als Extremismus oder borniertes Schwarz-weiß-Denken ansieht, sollte sich bewusst machen, dass es bei jeder Infektion nur positiv oder negativ gibt, es gibt nicht „ein bisschen infiziert“. Genauso wenig wie „ein bisschen schwanger“ oder „ein bisschen HIV oder Ebola“.

Ja, es gibt neuerdings vereinzelt Wissenschaftler*innen, die eine Infektion als Grundimmunisierung propagieren. Wobei dies aus dem Mund von Mediziner*innen für mich extrem befremdlich ist. Denn eine Krankheit sollte stets vermieden werden. Insbesondere wenn diese trotz Impfung mit einem ca. 10- bis 20-prozentigen Risiko auf lang anhaltende Schäden verbunden ist. Und letztlich wissen wir noch nicht, was alles im Überraschungsei enthalten ist: Parkinson? Alzheimer? Diabetes?

Dass COVID-19 die Immunabwehr zumindest die erste Zeit danach stark schwächt, ist ein weiterer Grund. Angestellte fallen mir gerade wegen allen möglichen Infekten aus. In einem Juli habe ich so etwas noch nie erlebt. Aber auch vor einer weiteren SARS-CoV-2-Infektion sind sie nicht durch die versprochene Schleimhautimmunität geschützt. Also sehe ich bisher keinerlei Vorteil in einer Infektion, sondern nur in Schutzmaßnahmen.

SARS-CoV-2 ist kein „respiratorisches Schnupfen-Husten-Virus“. Es ist längst bewiesen, dass COVID-19 eine systemische Erkrankung ist.

Inzwischen bitten Long-COVID-Patient*innen weltweit um Sterbehilfe oder begehen Suizid. In den USA sind ca. 1,6 Mio. Menschen dauerhaft arbeitsunfähig aufgrund von Long COVID. In Bayern geht man aktuell von 280.000 Long-­COVID-Patient*innen aus. Dies sind diejenigen, die nicht gleich mit einer F-Diagnose abgespeist wurden. Long COVID zu bekommen kann zum sozialen Abstieg führen, zumal die Erkrankung teils noch immer nicht als solche akzeptiert wird und es kaum Behandlungsversuche gibt. Definitiv ist es aber auch ein gesamtwirtschaftliches Risiko.

Ich fürchte keinen tödlichen Verlauf. Ich bin geimpft, mein Immunsystem ist mit großer Wahrscheinlichkeit in der Lage, mich am Leben zu erhalten. Was ich aber fürchte, ist das chronische Leiden. Dass ich für meine Familie und Patient*innen nicht mehr sorgen kann.

Schön formuliert hat dies Renato Kaiser im Podcast des Schweizer Fernsehens SF1 in der Folge „Hirnrissig“: „Mein Hirn ist kein Fan von Long COVID“. Große Hörempfehlung für alle, die schmunzelnd zum Nachdenken gebracht werden möchten. Bleiben Sie gesund!

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