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Long COVID Welche Mechanismen können dahinter stecken?

Autor: Kathrin Strobel

Relativ sicher ist, dass es nicht den einen Pathomechanismus gibt, der bei allen Patienten zutrifft. Wahrscheinlich handelt es sich immer um eine Kombination mehrerer Phänomene. Relativ sicher ist, dass es nicht den einen Pathomechanismus gibt, der bei allen Patienten zutrifft. Wahrscheinlich handelt es sich immer um eine Kombination mehrerer Phänomene. © Romolo Tavani – stock.adobe.com
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Über Long COVID wird derzeit viel diskutiert, etliche Hypothesen zur Pathogenese der Erkrankung kursieren. Steckt beispielsweise eine Reaktivierung latenter Epstein-Barr-Viren dahinter? Oder doch ein Autoimmunprozess? In Jena fassten Experten den aktuellen Wissensstand ­zusammen. 

Long COVID geht jeden etwas an, denn jeder kann davon betroffen sein, betonte Prof. Dr. Rachael­ Evans­ von der University of Leicester. Allerdings gibt es Faktoren, die das Erkrankungsrisiko für den Einzelnen erhöhen. Dazu zählen unter anderem weibliches Geschlecht, Übergewicht, ein schwerer COVID-19-Verlauf sowie bestimmte Vorerkrankungen.

Durch eine Impfung gegen SARS-CoV-2 lässt sich die Wahrscheinlichkeit, Long COVID zu entwickeln, deutlich reduzieren, erklärte Dr. ­Daniel Vilser­ vom Universitätsklinikum Jena. Wer sich nicht infiziert, erkrankt auch nicht an Long COVID. Und wer sich trotz Impfung doch ansteckt, hat ein nur etwa halb so hohes Long-COVID-Risiko wie ein Ungeimpfter. Zu beachten ist allerdings, dass es in seltenen Fällen durch die Impfung zu ähnlichen langanhaltenden Beschwerden kommen kann, so Dr. Vilser. Die Wahrscheinlichkeit, ein solches Post-Vac-Syndrom zu entwickeln, ist jedoch um ein Vielfaches geringer als das Risiko für Long COVID.

Viel wurde in den vergangenen Monaten dazu geforscht, welche Mechanismen Long COVID zugrunde liegen. Relativ sicher ist, dass es nicht den einen Pathomechanismus gibt, der bei allen Patienten zutrifft. Wahrscheinlich handelt es sich immer um eine Kombination mehrerer Phänomene. Diskutiert werden insbesondere die folgenden Hypothesen:

  • SARS-CoV-2-Persistenz
  • Reaktivierung(en) humaner Herpesviren
  • Autoimmunreaktionen
  • systemische und gewebsspezifische Entzündungsreaktionen
  • mikrovaskuläre Dysfunktion
  • Dysbiosen des Mikrobioms

Für all diese Hypothesen gibt es inzwischen Daten, die auf einen Zusammenhang hinweisen. Mittels Immunphänotypisierung konnte man beispielsweise zeigen, dass die Zahl bestimmter Immunzellen bei Long-COVID-Patienten im Vergleich zu Kontrollpersonen erhöht ist, berichtete Prof. Dr. Akiko­ Iwasaki­ von der Yale University School of Medicine. Dies betrifft beispielsweise aktivierte B-Zellen und bestimmte Typ-2-CD4-T-Zellen. Long COVID ist außerdem assoziiert mit Unterschieden im Hinblick auf zirkulierende Zytokine und Hormone. So sind beispielsweise die Cortisolspiegel von Betroffenen signifikant niedriger als die von gesunden ­Kontrollen. Zudem liegen nach der Corona­impfung die Anti-SARS-CoV-2-IgG-Spiegel bei Patienten mit Long COVID signifikant höher als bei ­Gesunden.

Anhaltende Symptome auch durch andere Viren

Nicht nur SARS-CoV-2, auch andere Pathogene können Beschwerden verursachen, die die akute Infektion lange überdauern. In manchen Fällen werden postinfektiöse Syndrome nach Ebola, Dengue, Polio und Chikungunya beobachtet, erklärte Prof.Iwasaki. Auch Erkrankungen durch Herpesviren wie EBV oder VZV sorgen mitunter für lang anhaltende Beschwerden. Zudem gibt es einige nonvirale Pathogene, die mit entsprechenden Syndromen assoziiert sind, allen voran Bakterien der Gattung Borrelia.

Es gibt Belege für eine Reaktivierung latenter Viren

Die Hypothese, dass die Reaktivierung von latenten Herpesviren bei Long COVID eine Rolle spielt, wird mittlerweile durch Daten gestützt. Sie zeigen, dass Betroffene im Schnitt nicht nur erhöhte Anti-Spikeprotein-Antikörpertiter aufweisen, sondern dass bei ihnen auch die Antikörpertiter gegen EBV- und Varizella-zoster-Antigene erhöht sind. Eine Reaktivierung von Herpesviren findet zumindest bei einem Teil der Patienten definitiv statt, so Prof. Iwasaki. Allerdings sei derzeit unklar, ob es sich bei den Antikörpern lediglich um Biomarker handele oder ob diese relevante Treiber der Symptome seien.

Bei manchen Patienten lassen sich funktionelle Autoantikörper nachweisen, die gegen sogenannte G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR) gerichtet sind. Das Vorhandensein dieser Auto­antikörper allein macht aber noch kein Long COVID, betonte PD Dr. Bettina­ Hohberger­ vom Universitätsklinikum Erlangen. Erst unter einer Kombination bestimmter Rahmenbedingungen treten Beschwerden auf. Zu diesen Bedingungen gehören zum Beispiel Ischämie und Inflammation. Treffen diese Faktoren aufeinander, kann dies zur endothelialen Dysfunktion, einer Veränderung der Blutzellen und letztlich zur gestörten Mikrozirkulation führen. Vieles deutet darauf hin, dass bei einer Subgruppe von Patienten eine solche durch funktionelle Autoantikörper vermittelte Autoimmunität vorliegt, so die Referentin.
Dass es im Rahmen von Long COVID zu Veränderungen der Blutgerinnung kommen kann, hat unter anderem die Forschergruppe um Prof. Dr. Resia­ Pretorius­ von der Stellenbosch University gezeigt. Die Wissenschaftler konnten bei Long-­COVID-Patienten strukturelle Veränderungen der Thrombozyten und von Fibrin(ogen) nachweisen. Bei gesunden Individuen führte der Kontakt mit dem Coronavirus-­Spikeprotein zur Bildung von ­Mikro­gerinnseln und einer Überaktivierung der Blutplättchen.

Obwohl es inzwischen einige sehr überzeugende Hypothesen für die Entstehung von Long COVID gibt, hat man bisher keinen Weg gefunden, die Erkrankung kausal zu therapieren. „Wir dürfen nicht den Fehler machen und denken ‚Jetzt haben wir eine Pathogenese, die sehr überzeugend ist, und wenn wir in die Pathogenese eingreifen, heilen wir automatisch‘. So einfach ist Medizin eben nicht“, betonte Prof. Dr. Andreas­ Stallmach­, Universitätsklinikum Jena. Es werde nicht den einen Ansatz geben, der allen Patienten helfe. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach steckt nicht bei allen Patienten derselbe Mechanismus hinter dem Syndrom.

Long COVID ist nicht gleich Long COVID

Patient-reported Outcomes allein reichen aus, um Long COVID mit einer 94%igen Genauigkeit zu identifizieren, erklärte Prof. Dr. Akiko Iwasaki auf Basis der Daten ihrer Studie. Interessant sei jedoch, dass sich die Krankheit nicht bei allen Patienten auf gleiche Weise äußere. Auch zwischen den Geschlechtern finden sich teils deutliche Unterschiede in Bezug auf das Beschwerdebild. Während manche Symptome wie Schlafstörungen und Fatigue über beide Geschlechter hinweg ähnlich häufig auftreten, gibt es andere, bei denen sich eine klare Geschlechterverteilung feststellen lässt. Frauen leiden signifikant häufiger unter Beschwerden wie

  • Schmerzen in Brust und Abdomen,
  • Parästhesien,
  • Haarverlust
  • Schwindel und
  • Gelenkschmerzen.

Eine sexuelle Dysfunktion im Rahmen von Long COVID tritt dagegen insbesondere bei Männern auf.
Doch auch abgesehen von den Geschlechterunterschieden sind Patienten mit LC eine heterogene Gruppe, darin waren sich die Referenten einig. „Long COVID“ ist derzeit ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Symptomen und Syndromen, die nach COVID-19 auftreten können, und die sich höchstwahrscheinlich nicht auf einen einzelnen gemeinsamen Pathomechanismus zurückführen lassen. Vielfach wird daher inzwischen gefordert, den Begriff „Long COVID“ zu überdenken.

Die Therapieforschung benötigt mehr Geld

Auf Basis der Überlegungen zu den möglichen Mechanismen, die zu Long COVID führen, gibt es eine ganze Reihe von Verfahren und Medikamenten, die für die kausale Therapie diskutiert werden. Allerdings hat man derzeit noch keine Evidenz für deren Wirksamkeit, betonte Dr. Vilser. Er forderte, in Deutschland mehr Geld für die Forschung zu diesem Thema bereitzustellen. Was bisher gegeben wurde, sei viel zu wenig.

Derzeit stammen die Daten zur Therapie von Long COVID noch aus einzelnen Fallberichten und unkontrollierten Studien, sagte Prof. Stallmach. Seine Prognose macht aber Hoffnung: „Ich bin ganz sicher, dass in den nächsten Monaten Ergebnisse aus kontrollierten Studien vorgelegt werden, die das Problem minimieren oder es vielleicht sogar lösen.“

Quelle: 1. Kongress des Ärzte- und ­Ärztinnenverbandes Long COVID