Anzeige

„Post-Vac-Syndrom“ Ärzte melden Nebenwirkung zu selten

Praxismanagement , Praxisführung Autor: Antje Thiel

Wer seltene Nebenwirkungen der Impfung bei sich vermutet, wird oft nicht ernst genommen. Wer seltene Nebenwirkungen der Impfung bei sich vermutet, wird oft nicht ernst genommen. © gopixa – stock.adobe.com; iStock/kieferpix
Anzeige

Einzelne Patienten berichten, seit der Coronaimpf­ung würden sie unter ständiger Erschöpfung leiden. Ist solch ein Zusammenhang denkbar? Zumindest einige Experten sehen Hinweise auf eine Autoimmunreaktion. Fest steht jedoch eines: Ärzte melden die Nebenwirkung zu selten.

Wenn Patienten in der Sprechstunde erklären „Ich bin eigentlich kein Impfgegner, aber ...“ , sollten Mediziner aufhorchen. Oft klagen die Betreffenden, dass sie seit der Impfung gegen COVID-19 unter Beschwerden leiden, die vorher nicht da waren. Mag sein, dass mancher nur etwas überbesorgt bzw. überempfindlich ist. Möglicherweise liegen aber tatsächlich Impfnebenwirkungen vor – und die müssen dem Gesundheitsamt gemeldet werden. Die Ämter informieren dann wiederum das Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Ärzte scheinen der Meldepflicht bei Impfnebenwirkungen jedoch nicht immer nachzugehen. In einem ARD-Bericht wird von einer „Untererfassung“ beim PEI gesprochen.

Auch Elisabeth Schneider aus Hameln stieß bei ihrer Hausärztin auf taube Ohren. Die 33-Jährige arbeitet als Wissenschaftlerin an einem Institut für Solarenergieforschung. Bis Mitte 2021 war sie sportlich sehr aktiv: Bouldern, Radwandern, Kanufahren, Akrobatik. Nun ist sie arbeitsunfähig. Seit ihrer zweiten Impfung Ende Juli 2021 mit dem Vakzin von Moderna fühlt sie sich konstant erschöpft, hat Kopfschmerzen, kann sich nur schwer konzentrieren und empfindet bereits leichteste körperliche Anstrengungen als Schwerstarbeit. Ihr ist oft schwindelig, ihre Lymphknoten schmerzen, dazu kommen Muskelzuckungen und Hitzewallungen. „Aktuell stehe ich morgens um 9 Uhr auf und frühstücke, danach muss ich mich wieder ­hinlegen.“

Schneider hat sich nachweislich nie mit Corona infiziert. Zweimal – einmal im Dezember 2021, einmal im Februar 2022 – hat sie ihr Blut auf Nucleocapsid-Antikörper testen lassen. Beide Male war dem Laborbericht zu entnehmen, es gebe keinen serologischen Hinweis auf eine akute oder zurückliegende Corona­infektion. Dafür offenbarte eine von Schneider selbst beauftragte Labor­untersuchung, dass ihr Blut Autoantikörper aufweist, wie sie sich auch bei Patienten mit Chronischem Fatigue-Syndrom (CFS) häufig auftreten. Und neuerdings auch bei Long- bzw. Post-COVID.

PEI wird Zusammenhang in Studie untersuchen

In Patienten-Communities werden Long-COVID-Symptome, die nach der Impfung auftreten inzwischen als „Post-Vac-Syndrom“ bezeichnet. Die Symptome ähneln denen des CFS. Beim PEI sind nach eigenen Angaben bislang insgesamt 41 CFS-Verdachtsfälle im zeitlichen Zusammenhang mit einer COVID-19-Impfung erfasst worden. Man beobachte sie und nehme sie „sehr ernst“, habe bisher aber „kein mit einem Impfstoff assoziiertes Risikosignal erkennen können“. Insbesondere liege die derzeit vorliegende Zahl an Verdachtsfallmeldungen zu CFS „deutlich unter der bisher beob­achteten Prävalenz in der Bevölkerung“. Allerdings werde das Institut gemeinsam mit weiteren Experten eine methodisch robuste Studie zur Untersuchung eines Zusammenhangs von CFS und COVID-19 aufsetzen und bemühe sich derzeit um Universitätskooperationen.

Langzeitfolgen von COVID

Nach COVID-19 kann es zu länger andauernden Beschwerden kommen. Bestehen sie länger als vier Wochen, spricht man vom Long-COVID-, nach zwölf Wochen vom Post-COVID-Syndrom. Betroffene berichten über Symptome wie Müdigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, verminderter körperlicher Belastbarkeit, Schlafstörungen, Schwindel, Geruchs- und Geschmacksstörungen, Herzrasen, Gelenk- oder Kopfschmerzen.

Patienten, die vermuten, sie seien vom Post-Vac-Syndrom betroffen, können sich an die interdisziplinäre Long-COVID-Ambulanz am Uniklinikum Gießen und Marburg (UKGM) wenden. Täglich werden vier bis sechs Betroffene untersucht, weitere 800 warten auf einen Termin, berichtet Prof. Dr. ­Bernhard Schieffer, Direktor der Kardiologie am Uniklinikum Marburg. Mit Blick auf den Post-Marketing-Report von BioNTech/Pfizer geht er von deutschlandweit etwa 25.000 Betroffenen aus. Er ist überzeugt, dass der Impfstoff bei ihnen eine infektiologische, immunologische oder genetische Vorbelastung des Immunsystems demaskiert und als Trigger für zum Teil schwerste Symptome wirkt: „Die Impfung löst etwas aus, das latent schon da war. Wir wollen verstehen, warum das Immunsystem bei diesen Menschen ‚falsch abgebogen‘ ist – ein äußerst spannendes interdisziplinäres Forschungsgebiet.“ Nach Einschätzung seines Teams spielen Autoantikörper eine entscheidende Rolle beim Post-Vac-Syndrom. Es gehe also darum, zunächst die Autoantikörper zu identifizieren und zu erfassen, welche Organfunktionen gestört sind. Manche Autoantikörpergruppen seien mit Muskelschwäche, andere mit zerebralen Symptomen oder Problemen der Kreislaufregulation assoziiert. Besonderes Augenmerk gilt dabei Autoantikörpern gegen den ACE2-Rezeptor (ACE2), an den das Spike-Protein des Coronavirus andockt. Dieses Protein kann entweder durch eine Infektion in den Körper gelangen oder mithilfe des mRNA-Impfstoffs im Körper nachgebaut werden. „Je nachdem, wie das blutdruckaktivierende Enzym voraktiviert ist, reagiert jeder Körper mit anderen immunologischen Prozessen“, erklärt Prof. Schieffer. Mit Blick auf Patienten wie ­Elisabeth Schneider betont er: „Diese Menschen sind wirklich krank.“ Allein die Tatsache, dass er und sein Team den Krankheitswert der Symptome anerkennen, verschaffe den Betroffenen Erleichterung. Immerhin hätten die meisten von ihnen bereits eine Odyssee von sechs bis acht Monaten hinter sich, bis sie den Weg in die UKGM-Ambulanz finden. Als erste Therapie habe sich mittlerweile die Gabe von Cholesterin- und Blutdrucksenkern, Vitamin D plus eine spezielle Diät bewährt. „Der Regelkreis über den ACE2-Rezeptor wird damit durchbrochen, die Entzündung und die damit verbundene Endothelitis gehen zurück“, berichtet der Kardiologe. Er möchte seinen Patienten Mut machen: „Post-Vac ist heilbar, auch wenn man Geduld mitbringen muss.“ Für weniger ratsam hält er den breiten Ansatz der Plasma-Apherese, mit der Autoantikörper und Mini-Gerinnsel aus dem Blut gewaschen werden sollen. Auch diese Therapie wird in Patientenforen gelegentlich empfohlen. „Doch das ist ein extrem aufwändiges und ebenfalls immunkompromittierendes Verfahren“, warnt Prof. Schieffer. Die bisherigen Daten sprächen nur für eine 50:50-Erfolgsaussicht. Umso wichtiger ist es ihm, dass die Diskussion über das Phänomen nicht in Patientenforen, sondern in der ärztlichen Community geführt wird: „In diesen Foren wird natürlich auch viel medizinisches Halbwissen verbreitet. Doch letztlich ist das nur Ausdruck der Hilflosigkeit, weil diese Menschen sonst niemand ernst nimmt. Wir müssen daher die Lufthoheit über den wissenschaftlichen Diskurs zurückgewinnen.“ Der UKGM-Direktor würde sich deshalb wünschen, dass Patienten mit dem Post-Vac-Syndrom mehr Anlaufstellen vorfinden, wo man ihnen zuhört und sie behandelt. „Wir sind dankbar für offene Ohren und Augen für diese Erkrankung und stehen für klärende Rücksprache gern zur Verfügung“, betont er.

Eindeutige Diagnose ist schwierig

Hausärzte sind mit Äußerungen zu einem möglichen Zusammenhang zwischen Coronaimpfung und Long-COVID-Symptomen sehr vorsichtig. Ausschließen möchte die Landesvorsitzende des Hausärzteverbands Rheinland-Pfalz, Dr. Barbara ­Römer, ihn zwar nicht. Schließlich sei es vereinzelt zu thrombotischen Ereignissen gekommen, die auch zu CFS-artigen Symptomen führen könnten. Sie gibt allerdings zu bedenken: „Bei Post-COVID handelt es sich um einen ganzen Strauß funktioneller Symptome, die häufig strukturell bislang nicht nachweisbar sind. Und auch ein CFS ist nichts, das man so eindeutig diagnostizieren kann wie einen entzündeten Blinddarm. Das ist oft ein mühsamer und langer Weg.“

Erklärungsansätze und Anlaufstellen

Viel ist über das Post-Vac-Syndrom noch nicht bekannt. Ärzte und Betroffene können wie folgt an Informationen gelangen:
  • Ein Artikel in Science von Januar 2022 (doi: 10.1126/science.ada0394) schildert einzelne Fallbeispiele und diskutiert u.a. den Einfluss von Autoantikörpern, die sich gegen den ACE2-Rezeptor richten.
  • Ein Medizinreport im Deutschen Ärzteblatt (Dtsch Arztebl 2022; 119: A-438 / B-359) befasst sich mit vorbestehenden Risikofaktoren für Long-COVID und streift auch das Auftauchen von Autoantikörpern allein durch das mit der Impfung verabreichte Spike-Protein.
  • Die AG Long-COVID & ME/CFS am Universitätsklinikum Erlangen unter Leitung von Prof. Dr. Christian Mardin untersucht und behandelt auch Patienten mit Post-Vac-Syndrom. In Erlangen gelangen Mitte 2021 die ersten erfolgreichen Heilversuche von Patienten mit Long-COVID. Sie wurden mit dem Medikament BC 007, das Autoantikörper unschädlich machen soll, behandelt.
  • Das Universitätsklinikum Gießen Marburg behandelt in seiner interdisziplinären Spezialambulanz Patienten mit Long-COVID und Patienten mit Nebenwirkungen nach der Coronaimpfung.
  • Im Patientenforum „­Nebenwirkungen der Covid Impfungen“ tauschen sich Betroffene über das Post-Vac-Syndrom aus.

Skeptisch äußert sich der Hamburger Allgemeinmediziner Dr. Björn Parey, einer der besonders aktiven Impfärzte in der Hansestadt: „Ich habe einen solchen Fall weder erlebt noch davon gehört. Natürlich ist in der Medizin prinzipiell alles denkbar, die Frage ist aber doch, wie wahrscheinlich ein Zusammenhang wirklich ist.“ Patienten wollten immer gern die genaue Ursache für ihre Symptome wissen, „doch es gibt nun einmal viele Menschen, bei denen wir die Ursachen für ihre Erkrankung nicht kennen und womöglich auch nicht herausfinden werden.“ In solchen Fällen sei häufig eine Psychotherapie der erfolgversprechendste Ansatz: „Es sollte nicht nur die Ursachenforschung im Fokus stehen, sondern auch, wie sich das Leben mit den Einschränkungen weiterleben lässt“, meint Dr. Parey.

Ohne Nachweis kein Zugang zu Ambulanzen

Auch der HNO-Arzt Dr. Dirk ­Heinrich, bis Ende August 2021 einer der ärztlichen Leiter des Hamburger Impfzentrums, hegt Zweifel: „Das sind bislang alles nur Verdachtsfälle. Erkrankungen wie CFS tauchen ja auch sonst auf, ein Zusammenhang ist schwer zu belegen.“ Ein Vergleich der Häufigkeit während der Impfkampagne mit früheren Inzidenzen sei erst auf lange Sicht möglich. Hier müsse man auf entsprechende Sicherheitsberichte des PEI warten. Für Schneider ist die Ungewissheit zermürbend. Denn ohne einen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Impfung und Symptomatik wird ihr vielerorts der Zugang zur medizinischen Versorgung verwehrt. So verlangen z.B. ­Long-COVID-Ambulanzen in der Regel den Nachweis einer zurückliegenden Infektion, bevor sie Patienten aufnehmen. Außerdem sorgt sie sich um ihre berufliche Zukunft und fürchtet, ohne klare Diagnose gegenüber ihrer Krankenkasse in Erklärungsnöte zu geraten. Als belastend empfindet sie auch, dass sie mit ihrer Erkrankung sowohl Impfbefürworter ebenso wie Impfgegner gegen sich aufbringt. „Manche Ärzte scheinen meine Beschwerden als Angriff gegen die Impfkampagne zu sehen. Ich habe dann das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen und beginne das Gespräch immer mit dem Hinweis, dass ich für die Impfung bin“, berichtet sie. „Sie ist das entscheidende Instrument, um aus dieser Pandemie herauszukommen.“ Menschen, von denen sie weiß, dass sie die Impfung ablehnen, erzählt sie deshalb lieber nicht von ihrer Erkrankung – aus Sorge, von ihnen instrumentalisiert zu werden.

Medical-Tribune-Bericht

Anzeige