
Essstörung Anorexia nervosa: positive Resonanz zum Home-Treatment

Schnell raus aus der Familie und direkt in stationäre Behandlung: So sieht das klassische Konzept in der Behandlung einer Anorexia nervosa aus. In Aachen hat man neue Ideen entwickelt, die Schule machen könnten.
Vor der Coronapandemie war etwa jedes 50. bis 100. Mädchen an einer Anorexia nervosa erkrankt. Diese Zahl ist während der Pandemie erheblich gestiegen, berichtet Prof. Dr. Beate Herpertz-Dahlmann, Seniorprofessorin von der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik der RWTH Aachen. Das Risiko für eine stationäre Aufnahme von betroffenen Mädchen unter 14 Jahren kletterte in dieser Zeit auf über 40 %, für weibliche Teenager zwischen 14 und 18 Jahren um 25 %.
Männliche Jugendliche flüchten in Sportexzesse
Jungen machen weiterhin nur einen Bruchteil der Erkrankten aus, weshalb die Kollegin in der Regel von Patientinnen spricht. Jungen bieten zudem meist ein ganz anderes Bild. Sie hungern viel seltener offensichtlich, treiben stattdessen öfter extrem viel Sport oder nehmen manchmal diverse Nahrungsergänzungsmittel. „Wir sehen bei ihnen eher eine Muskeldysphorie statt der klassischen Anorexia nervosa“, erklärt Prof. Herpertz-Dahlmann.
Der stationäre Aufenthalt mit multimodaler Behandlung ist hierzulande nach wie vor der Goldstandard der Anorexiatherapie, und mit durchschnittlich 115 Tagen hat Deutschland die längste Verweildauer in der westlichen Welt. Die „Schuld“ an der Essstörung gab man fast immer der Familie, weshalb die Trennung von ihr bislang zu den Basismaßnahmen gehört. Doch dafür gibt es überhaupt keine echten Belege, betont die Kinder- und Jugendpsychiaterin, „niemand hat Schuld an der Anorexia nervosa“. Fest steht, dass eine große genetische Disposition vorliegt. Weibliche Angehörige von Betroffenen haben ein zehnfach höheres Risiko, selbst zu erkranken. Darüber hinaus finden sich gehäuft bestimmte Charaktermerkmale bei den Patientinnen. Dazu gehören hohes Leistungsstreben, Perfektionismus, Zwanghaftigkeit und ein niedriges Selbstwertgefühl. „Viele dieser Merkmale sind aber ebenfalls ererbt“, sagt Prof. Herpertz-Dahlmann. Auch das Mikrobiom ist bei Anorexia nervosa verändert, wobei man nicht weiß, ob diese Veränderung bereits vor der Erkrankung bestand oder erst durch sie entstand. Und diese Abweichungen bleiben auch nach einer Gewichtsnormalisierung bestehen. Nicht zuletzt dürften die sozialen Medien ihren Anteil zur Entwicklung einer Anorexia nervosa betragen, wenn Influencerinnen Dünnsein als Schönheitsideal propagieren.
Die stationären Behandlungsmodelle zeigen durchaus Erfolg – aber die Rezidivrate ist hoch. Etwa ein Viertel der Patientinnen muss binnen eines Jahres erneut hospitalisiert werden, und manchmal kommt es zu weiteren Aufenthalten in den darauffolgenden Jahren. Ein Problem liegt laut Prof. Herpertz-Dahlmann darin, dass die Betroffenen keine Möglichkeit haben, das veränderte Essverhalten im häuslichen Umfeld zu üben. Zu Hause fallen sie dann rasch wieder in die ungesunden Gewohnheiten zurück. Dazu kommt, dass auch die Eltern bzw. die Familie daheim mit dem Übergang oft überfordert ist.
Die Kinder- und Jugendpsychiaterin und ihr Team haben daher ein ganz anderes Konzept entwickelt: das Home-Treatment. Zum initialen Mindestgewichtsaufbau müssen die Patientinnen weiterhin für ca. 5–8 Wochen ins Krankenhaus.
Multidisziplinäre Teams regelmäßig auf Hausbesuch
Doch danach werden sie und ihre Angehörigen zu Hause weiter betreut. „Wir müssen dahin gehen, wo die Essstörung lebt“, fasst Prof. Herpertz-Dahlmann ihren Ansatz plakativ zusammen. Im ersten Monat kommt das Team, das sich neben dem ärztlichen Personal aus den Bereichen Psycho-/Ergo-/Physiotherapie, Pflegedienst und Ernährungsberatung zusammensetzt, drei- bis viermal pro Woche zu den Familien, im zweiten Monat dreimal und dann weiter absteigend. Darüber hinaus steht für den Notfall rund um die Uhr jemand für eine Sofortintervention zur Verfügung.
Nachdem ein Pilotprojekt zwischen 2017 und 2019 mit Erfolg abgeschlossen wurde, läuft das Home-Treatment nun im Rahmen einer randomisierten Studie seit 2020 in Aachen und an vier weiteren Kliniken in Nordrhein-Westfalen. Als Vergleich dient die klassische (teil-)stationäre Behandlung. Gefördert wird die Studie durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses, die Kosten entsprechen denen für einen Aufenthalt in Tageskliniken. Die Finanzierung ist bis Ende 2026 gesichert.
Die Resonanz der Familien fällt überwiegend positiv aus, die meisten sind sehr froh über die Betreuung im häuslichen Umfeld. Nur wenige empfinden es als Belastung, z. B. wegen der festen Uhrzeiten für die Mahlzeiten oder der meist unvermeidlichen Diskussionen übers Essen.
Studienergebnisse für Ende des Jahres erwartet
Ende dieses Jahres wird die Studie mit Ergebnissen von ca. 160 Teilnehmenden publiziert. Prof. Herpertz-Dahlmann ist bezüglich der Ergebnisse optimistisch. Sie hofft, dass sich mit dem Konzept viel häufiger eine Chronifizierung verhindern lässt. Und vielleicht gelingt es sogar irgendwann, viel mehr Anorexia-nervosa-Patientinnen vollständig ambulant zu behandeln.
In der Skinny-Bubble auf Social Media
Die Nutzung von sozialen Medien kann das Risiko für Essstörungen bei Jugendlichen steigern, wie verschiedene Studien bestätigen. Insbesondere auf video- und fotobasierten Plattformen wie TikTok und Instagram verbreiten sich Trends wie #SkinnyTok, die das Dünnsein idealisieren. In den Videos teilen vor allem junge Nutzerinnen ihre Abnehmtipps und wie es ihnen gelingt, „skinny“ zu bleiben. Teils bewerben sie restriktive Essgewohnheiten. Abgemagerte Körper gelten mitunter als Vorbild und in manchen Fällen werden Essstörungen verharmlost.
Laut TikTok ist es verboten, auf der Plattform Essstörungen zu inszenieren. So hat das Unternehmen den Hashtag #SkinnyTok offiziell gesperrt. Wer danach sucht, bekommt stattdessen Informationen zu Hilfsangeboten angezeigt. Doch ähnliche Hashtags in leicht abgewandelter Form existieren noch immer. Und der Algorithmus spielt den Nutzerinnen weiterhin ähnliche Inhalte aus.
Wichtig ist es daher, Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz zu vermitteln, heißt es in einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie. Auch eine Abstinenz von sozialen Medien kann sich bei einer Essstörung positiv auswirken.
Generell mehren sich Forderungen nach einem besseren Altersverifikationssystem und ggf. höheren Altersgrenzen für soziale Medien. So sind Instagram und TikTok eigentlich erst für Kinder ab 13 Jahren zugelassen – in der Praxis aber mangelt es an wirksamen Kontrollmechanismen, um diese Regelung durchzusetzen.
Nina Arndt
Quelle: Medical-Tribune-Bericht