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Fester Grenzwert oder Zielkorridor? Beim optimalen Blutdruck für nierenkranke Patienten sind sich die Experten uneins

Autor: Alexandra Simbrich

Das richtige Blutdruckziel nierenerkrankter Patient:innen muss stets individuell bewertet werden. Das richtige Blutdruckziel nierenerkrankter Patient:innen muss stets individuell bewertet werden. © shidlovski – stock.adobe.com
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Bluthochdruck ist bei eingeschränkter Nierenfunktion ein häufiger Begleiter. Er trägt nicht nur zu einer raschen Verschlechterung bei, sondern erhöht zudem das kardiovaskuläre Risiko. Trotzdem scheint sich die Suche nach dem idealen systolischen Zielwert schwierig zu gestalten.

Zumindest in einem Punkt sind sich alle nationalen und internationalen Fachgesellschaften einig, schreibt Prof. Dr. ­Markus van der Giet von der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion (chronic kidney disease; CKD) empfehlen sie in ihren Leitlinien alle eine Blutdrucksenkung auf < 140 mmHg systolisch, um einer Progression der Nierenfunktionsstörung entgegenzuwirken. Im Detail liegen die Empfehlungen dann aber weit auseinander.

Geht es nach der internationalen Organisation KDIGO*, sollte der Blutdruck möglichst radikal gesenkt werden: Ihren Leitlinien von 2021 zufolge rät sie bei nierenkranken Patienten zu einem systolischen Blutdruckziel von < 120 mmHg in der automatisierten Blutdruckmessung. Das Evidenzniveau 2B der Empfehlung zeigt jedoch einerseits substanziellen Diskussionsbedarf an (Level 2) und deutet andererseits auf eine eher moderate Evidenz hin (Grad B).

Die Empfehlung basiert auf der SPRINT**-Studie mit über 9.600 Nichtdiabetikern mit einem systolischen Blutdruck von > 130 mmHg, darunter auch viele mit eingeschränkter Nierenfunktion. Nach einem medianen Follow-up von mehr als drei Jahren gab es in der Intensivgruppe, deren Drücke man auf 120 mmHg gesenkt hatte, signifikant weniger Myokardinfarkte und andere kardiovaskuläre Ereignisse als in der Standardgruppe (Zielwert < 140 mmHg). Allerdings profitierten vor allem Patienten ohne Nierenfunktionsstörung von der intensiven Blutdrucksenkung, betont Prof. van der Giet. Zudem galten in SPRINT viele unterschiedliche Ursachen für eine Nierenfunktionsstörung als Ausschlusskriterium. Dadurch fehlten Patienten mit CKD-Stadium 4 und 5, was die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf alle nierenkranken Patienten stark einschränkt, so Prof. van der Giet.

Etwas weniger ambitioniert klingt es in den Leitlinien des American College of Cardiology und der American Heart Association von 2017. Dort wird, ebenfalls vor allem auf Basis der SPRINT-Studie, ein Praxisblutdruck von < 130 mmHg systolisch propagiert – auch für Patienten mit einer chronischen Nierenfunktionsstörung. Positive Effekte einer Blutdruckeinstellung auf diesen Zielwert fanden sich in einer gepoolten Auswertung mehrerer Studien, die zwar auch Diabetiker, aber nur wenige Patienten mit CKD-Stadium 3 umfasste. Die Hinweise auf positive Effekte in Bezug auf die Mortalität gelten möglicherweise nicht für diabetische Patienten bzw. nicht für alle mit CKD-Stadium 3 und 4. Anstatt auf einem Zielwert von < 130 mmHg zu beharren, scheint es zielführender zu sein, Drücke um 130 mmHg anzustreben, so Prof. van der Giet.

Abweichend von der Position der amerikanischen Kollegen definiert die European Society of Hypertension in Zusammenarbeit mit der European Society of Cardiology in ihren Leitlinien aus dem Jahr 2018 für den systolischen Blutdruck einen Zielkorridor. Dieser beträgt 130–140 mmHg in der Praxisblutdruckmessung. Patienten unter 65 Jahren können bei Toleranz durchaus auf < 130 mmHg eingestellt werden. Anders als die Kollegen der KDIGO und der amerikanischen Fachgesellschaften haben die europäischen Kollegen nicht nur die Reduktion der Mortalität, sondern auch das Fortschreiten der Nierenfunktionsstörung im Blick. Die Empfehlungen stützen sich auf mehrere Studien mit nierenkranken Patienten, die dieses wesentliche Ziel allerdings nicht erreichten: Eine intensive Blutdrucksenkung war vor allem mit einer signifikant verringerten Mortalität, nicht aber mit einer geringeren Verschlechterung der Nierenfunktion assoziiert.

Einen anderen Weg gehen die Kollegen des britischen National Institute for Health and Care Excellence in ihren Leitlinien von 2019. Sie differenzieren die Blutdruckziele anhand einer vorhandenen Albuminurie. Nierenkranke Patienten ohne Diabetes sollten demnach einen sys­tolischen Praxisblutdruck von < 140 mmHg erreichen. Bei Patienten mit Diabetes und/oder Albuminurie sollte er noch weiter auf einen Korridor zwischen 120 und 129 mmHg angepasst werden.

Die Frage, welche Drücke am bes­ten geeignet sind, um die Mortalität zu reduzieren und einer Progression der Nierenfunktionsstörung entgegenzuwirken, ist nicht leicht zu beantworten, so Prof. van der Giet. Ein ideales Blutdruckziel könnte bei 130 ± 5 mmHg liegen. Ein Korridor könnte durchaus hilfreich sein, fasst der Experte die heterogenen Empfehlungen zusammen. Und betont zugleich, dass stets individuell bewertet werden müsse, wann die optimale Blutdruckeinstellung tatsächlich erreicht ist und ob eine Niereninsuffizienz bzw. eine Albuminurie ein anderes Blutdruckziel erfordert.

* Kidney Disease: Improving Global Outcomes
** Systolic Blood Pressure Intervention Trial

Quelle: van der Giet M. Inn Med (Heidelberg) 2023; 64: 234-239; DOI: 10.1007/s00108-023-01483-4