Kongressbericht „Keine spezielle Medizin, aber besondere Menschen“

DGIM 2025 Autor: Dr. Anja Braunwarth

Der Schmerz wird oftmals vom Betreuungspersonal vermutet, nicht zuletzt aufgrund von Verhaltensänderungen. Der Schmerz wird oftmals vom Betreuungspersonal vermutet, nicht zuletzt aufgrund von Verhaltensänderungen. © Kawee – stock.adobe.com

Sind es Schmerzen oder Unmut? Wie lässt sich die Koloskopie durchführen? Und ist Dialyse eine Option? Erkrankungen von Menschen mit schwerer Intelligenzminderung stellen für die Behandelnden oft eine Herausforderung dar. Es gilt, die klassischen Kenntnisse an die besonderen Bedürfnisse anzupassen. 

Menschen mit einer Intelligenzminderung bilden eine sehr heterogene Gruppe, erklärte Dr. Jörg Stockmann von der Klinik für Inklusive Medizin am Evangelischen Krankenhaus Hagen-Haspe. Doch sie haben auch einige Gemeinsamkeiten, z .B . bekommen sie oft viele Medikamente und leiden an einer Kombination von mehreren, meist schwerwiegenden Erkrankungen. Die Zahl der Menschen mit schwerer und schwerster Intelligenzminderung wird in Deutschland auf 300.000 geschätzt. 

„Man hat es dann als Arzt immer mit vielen Wechselwirkungen zwischen medizinischen, sozialen und psychischen Faktoren sowie oft unübersichtlichen Vorgeschichten zu tun, sagte Dr. Stockmann. Dazu kommen Hindernisse wie die erschwerte oder fehlende Fähigkeit zu kommunizieren und zu kooperieren. Als Folge bleiben viele somatische Erkrankungen unentdeckt.

Um Schmerzen zu erfassen, werden allgemein diverse Skalen genutzt. Die gibt es auch für intelligenzgeminderte Menschen, die Anwendung erweist sich laut Dr. Stockmann aber dennoch als schwierig. Neue KI-gestützte Systeme, z.B. Videoanalysen von Gesichtsausdrücken oder Lautäußerungen, sind auf dem Weg, aber noch nicht praxisreif. 

Oft wird der Schmerz vom Betreuungspersonal vermutet, nicht zuletzt aufgrund von Verhaltensänderungen. In der Abklärung gilt es dann einiges zu bedenken. Dazu gehört unter anderem, syndromassoziierte Probleme im Kopf zu haben wie mögliche Einblutungen in renale Angiomyolipome bei tuberöser Sklerose. Man muss abwägen, welche Belastung eine Diagnostik für die Betroffenen bedeutet und den möglichen Aufwand – beispielsweise eine eventuell erforderliche Sedierung – berücksichtigen. 

Mögliche Schmerzauslöser in allen Organsystemen

Zu den häufigen Ursachen für Schmerzen, die Dr. Stockmann und sein Team im Alltag beobachten, gehören:

  • Frakturen durch Stürze bei vorliegender Epilepsie
  • neuro-orthopädische Leiden (Skoliose, Kontrakturen, Osteoporose, Arthrose, Spastik, Luxationen)
  • gastrointestinale Erkrankungen (Obstipation, Reflux, Helicobacter-Gastritis, Hiatushernien)
  • urologische Probleme (Harnverhalt, Infekte, Steine in Blase oder Niere)
  • gynäkologische Probleme (Dysmenorrhoe, Ovarialzysten)
  • neurologische/neurochirurgische Krankheiten (Spastik, Migräne Shuntverschluss)

In jedem Fall ist eine Basisdiagnostik mit Untersuchung, Labor und Sono angezeigt. Und wenn sich die Betroffenen ohnehin in der Klinik befinden, sollte man auch die Chance nutzen, soweit möglich allgemein anerkannte Früherkennungsuntersuchungen durchzuführen. Alles Weitere diskutiert das Team um Dr. Stockmann dann in interdisziplinären Fallkonferenzen.  

Dr. Sarah Krieg, Universitätsklinik für Inklusive Medizin, Krankenhaus Mara, Bielefeld, ging näher auf gastroenterologische Begleiterkrankungen ein. Magen-Darm-Beschwerden betrafen in einer retrospektiven Analyse 48,8 % der Erwachsenen mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, bei Menschen ohne sie waren es 8 %. Und einige genetische Syndrome sind gehäuft mit bestimmten gastroenterologischen Symptome assoziiert. Beim Angelman- und beim Prader-Willi-Syndrom dominieren Obstipation, bei Prader-Willi beobachtet man zudem häufig eine verzögerte Magenentleerung und Hyperphagie. Menschen mit Cornelia-de-Lange-Syndrom leiden vor allem unter einer Refluxkrankheit, Down-Kranke unter Obstipation, Duodenalatresie, M. Hirschsprung und Zöliakie. 

Die Diagnostik, insbesondere Koloskopien, gestaltet sich schwierig und bedeutet für die Patientinnen und Patienten eine große Belastung. Es bedarf einer längeren Vorbereitung und größerer Trinkmengen, oft kommt es laut Dr. Krieg zu schweren Elektrolytverschiebungen und zum Erbrechen mit Aspiration. Durch die häufig unzureichende Vorbereitung verlängern sich die Untersuchungszeiten, die Sicht ist eingeschränkt und die Gefahr der Aspiration steigt. Deshalb lautete ihre Botschaft: die Indikation zurückhaltend stellen, aber bei Warnzeichen natürlich nicht darauf verzichten.

Kommen Menschen mit schweren geistigen Behinderungen für eine Nierenersatztherapie in Frage?  Dr. Mariam Abu-Tair von der Abteilung für Nephrologie und Diabetologie am Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld beantwortete diese Frage klar mit einem „Ja“. Schließlich bedeute Medizin für geistig behinderte Menschen, einfach medizinische Erkenntnisse an die besonderen Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen. „Wir machen keine spezielle Medizin, aber wir haben besondere Leute“, betonte die Kollegin.

Was bedeutet die Dialyse für Betroffene und Angehörige?

Es gilt aber, im Vorfeld einer möglichen Nierenersatztherapie wichtige Fragen zu beantworten. Profitiert der Einzelne von einer Dialyse? Was mute ich ihm damit zu, was den Angehörigen? Man muss in jedem Fall umfassend aufklären, das Team um Dr. Abu-Tair nutzt dafür gerne die Ethikkommission am Haus. Oberstes Ziel ist die Lebensqualität zu erhalten oder zu erhöhen – und zwar die der Betroffenen „Wir müssen Abstand davon nehmen, was wir als Lebensqualität empfinden.“ Die Qualität der Dialyse werde dabei fast zur Nebensache. Und man solle auch immer im Gespräch mit den Betroffenen und Angehörigen darüber bleiben, ob womöglich eine Transplantation gewünscht wird und in Frage kommt. 

An der Dialyse brauchen Menschen mit Behinderungen einen möglichst konstanten Behandlungsablauf, wenig Mitarbeiterwechsel und keine Unruhe, unterstrich Dr. Abu-Tair. „Man muss die Sprache des anderen lernen und die Individualität einschätzen.“ Was diese Menschen nicht brauchen, sind beispielsweise Sedativa als Kompensation für Personalmangel. Das Fazit der Kollegin: „Dialyse ist machbar, aber die Maschine alleine macht es nicht.“ 

Krebs bei Menschen mit Intelligenzminderung

Die Datenlage zu Krebserkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung ist nicht eindeutig, berichtete Prof. Dr. Tanja Sappok, Neurologin von der Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara in Bielefeld. In manchen Untersuchungen findet sich ein erhöhtes Krebsrisiko, in anderen ein erniedrigtes. Fest steht, dass die Gefahr nicht vom Geschlecht und nicht vom Schweregrad der Intelligenzminderung abhängt. Erhöht ist sie bei syndromaler Minderung der Intelligenz und bei Autismusspektrumstörungen. Außerdem scheint eher ein größeres Risiko für Krebserkrankungen am Gastrointestinaltrakt, an den Hoden, im ZNS, im Blut und an der Schilddrüse zu bestehen, während es weniger Lungen- und Prostatatumoren gibt.

Insgesamt haben die Betroffenen eine um etwa 20 Jahre kürzere Lebenserwartung als die Allgemeinbevölkerung. Malignome zeichnen dabei für 15–20 % der Fälle verantwortlich, und auch die krebsassoziierte Mortalität liegt generell höher. Bei verschiedenen genetischen Syndromen bestehen klare Assoziationen zu bestimmten Tumorleiden, z. B zwischen Down-Syndrom und akuten Leukämien oder Tuberöser Sklerose und subependymalen Riesenzellastrozytomen des ZNS.

Die Prognose ist für Menschen mit Intelligenzminderung und onkologischen Leiden generell schlechter. Das liegt vor allem daran, dass sie einen schlechteren Zugang zu einer adäquaten Versorgung haben.

Schmerzdiagnostik bei Menschen mit einer Intelligenzminderung