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Streit um den Löffel Wann ist das Fütterfiasko eine behandlungsbedürftige Essstörung?

Autor: Dr. Dorothea Ranft

Essstörungen bei Kleinkindern sind nach klaren Symptomen definiert und sollten von vorübergehenden Essproblemen unterschieden werden. (Agenturfoto) Essstörungen bei Kleinkindern sind nach klaren Symptomen definiert und sollten von vorübergehenden Essproblemen unterschieden werden. (Agenturfoto) © lordn – stock.adobe.com
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Jede Mahlzeit ein Kampf: Das Kleinkind dreht sich schon beim ersten Löffel schreiend weg, die Eltern sind überfordert, versuchen es womöglich mit Zwang. Zum Glück gibt es einen Ausweg aus solchen Situationen.

Fütter- und Essstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter sind in der Regel multifaktoriell­ bedingt, schreibt Dr. Margret­ Ziegler­ vom KbO – Kinderzentrum München. Zu den Risikofaktoren aufseiten des Kindes zählen gastrointestinale Störungen, Früh- und Mangelgeburt, Sondenernährung und Fehlbildungen im Naso-Oro-Pharynx. Auch Herzerkrankungen und Nahrungsmittel­unverträglichkeiten (v.a. gegenüber Kuhmilchproteinen) können ein entsprechendes Verhalten auslösen. Bei den Eltern dominieren Unsicherheit und Ängste um das Überleben und Gedeihen des Kindes. Zudem kommt es vor, dass die Signale des Kindes von Hunger und Sättigung nicht adäquat wahrgenommen werden.

Zur Einordnung der Störung  sollte man die Eltern neben den aktuellen Essproblemen nach der bisherigen Ernährung befragen. Dabei interessiert vor allem, wie die Übergänge zu neuen Geschmäckern, Konsistenzen und zum selbstständigen Essen des Kindes gemeistert wurden. Von besonderer Bedeutung sind traumatische Erfahrungen z.B. durch Sondenlegen, Zwangsfüttern, häufiges Würgen und Erbrechen sowie bei der Zahnpflege. 

Zudem müssen die Körpermaße wie Länge, Kopfumfang und BMI erhoben und im Verlauf kontrolliert werden. Hinweise auf mangelndes Gedeihen, z.B. geringes Wachstum, sind sorgfältig abzuklären. Auffälligkeiten in der Entwicklung wie Autismus und genetische Erkrankungen bedürfen ebenfalls der genaueren Diagnostik. 

Außerdem sollten die Eltern mindes­tens drei Tage lang ein Nahrungsprotokoll führen, in dem auch die nächtliche Nahrungsaufnahme und Zwischenmahlzeiten, Trinkmengen, und Snacks aufgeführt sind. Kleinkinder, die nachts noch mehrmals Milch bekommen, haben vor allem am Vormittag kaum Hunger. Anhand der Auflis­tung lässt sich auch prüfen, ob das Kind genügend Kalorien, Vitamine und Spurenelemente zu sich nimmt. 

Entscheidend für die Therapie ist die Beobachtung von Fütter- bzw. Essenssituationen, möglichst auch von einer unbelasteten, spielerischen Interaktion zwischen Eltern und Kind. Solche Videos können die Eltern selbst aufzeichnen. Damit lässt sich beurteilen, was der kindlichen Abwehr bzw. Verweigerung zugrunde liegt. Vor allem sollte man darauf achten, ob Geschmack und Konsistenz der Nahrung, eine angespannte Situation beim Füttern oder der Wunsch des Kindes, selbstgesteuert zu essen, eine Rolle spielen. Zudem muss geprüft werden, ob die kindliche Entwicklung beeinträchtigt ist und ob die Nahrungszufuhr zum Alter passt. 

Einseitige Kost macht Supplemente nötig

Anhand der erhobenen Befunde ist zwischen einer manifesten Fütter- bzw. Essstörung und einem – meist vorübergehenden – problematischen Essverhalten zu differenzieren. Die Fütter- bzw. Essstörung wird anhand der vorherrschenden Symptome definiert (siehe Kasten). 

Veränderungen des Essverhaltens

  • Regulationsfütterstörung: Kind zu unruhig, um ausreichend zu essen

  • Fütterstörung der reziproken Interaktion: schwere Beziehungsstörung

  • infantile Anorexie: Kind zeigt wenig Hunger, alles andere scheint ihm wichtiger

  • sensorische Störung: Überempfindlichkeit für Geschmack und Konsistenz

  • posttraumatische Störung: Folge oraler oder perioraler Manipulationen

  • Fütter- und Essstörungen bei organischen Erkrankungen

  • Überessen: Bedürfnisse nach Zuwendung werden mit Essen gestillt (neues Krankheitsbild, bislang wenig erforscht)

In den ersten Lebensjahren ist ein gutes Gedeihen essenziell für Wachstum und Entwicklung. Bei einseitiger Kost (z.B. ausschließlich Milchnahrung im zweiten Lebensjahr) müssen Supplemente einen möglichen Mangel ausgleichen. In Einzelfällen kommt vorübergehend Sondennahrung in Betracht. 

Bei leichten Störungen genügt in der Regel eine ausführliche Beratung. Die Eltern sollten auf Druck, Zwang und Ablenkung beim Essen verzichten. Das Ziel ist eine durch Hunger und Sättigung gesteuerte Nahrungsaufnahme, wegen der Vorbildfunktion am besten gemeinsam am Familientisch, mit begrenzter Mahlzeitendauer. Außerdem sollte das Kind, soweit möglich, eigenständig essen. Auf Zwischenmahlzeiten ist zu verzichten, ebenso auf zuckerhaltige Getränke. 

Schwere Störungen und Sondenentwöhnungen werden am besten mit einem multiprofessionellen Team behandelt. Die individuelle Therapie richtet sich nach der Art der Störung. Bei der posttraumatischen Fütterstörung ist ein stufenweises Desensibilisieren hilfreich. Man beginnt mit der weniger gefürchteten Kost und führt das Kind Schritt für Schritt an die abgewehrten Nahrungsmittel heran. Eine Fütterstörung bessert sich erst, wenn kein Zwang stattfindet, die Abwehr des Kindes respektiert wird und der kleine Patient selbstgesteuert Nahrung aufnehmen kann. 

Videos von belastenden Situationen sollten gemeinsam mit den Eltern betrachtet werden. Doch Vorsicht: Sie lassen sich nur bei einer guten therapeutischen Beziehung nutzen, denn die Mütter und Väter fühlen sich schnell abgewertet oder beschämt und lehnen dann weitere Unterstützung ab. Bei einer Gefährdung des Kindes etwa durch fortgesetzte Zwangsfütterung ist eine stationäre Therapie indiziert. Es ist wichtig, jegliche Interaktionen gemeinsam mit den Eltern zu planen.

Quelle: Ziegler M. Kinderärztliche Praxis 2023; 94: 182-186