Neue Empfehlungen, alte Fragen Wie bringt man Licht ins Dunkel der Statintherapie in der Primärprävention?

Autor: Dr. Susanne Meinrenken

Wer ein Statin zur Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse erhalten sollte, wird weiterhin diskutiert. Wer ein Statin zur Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse erhalten sollte, wird weiterhin diskutiert. © rogerashford/gettyimages

Wer ein Statin zur Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse erhalten sollte, wird weiterhin diskutiert. Der G-BA hat vor Kurzem die Verordnungsmöglichkeit erweitert. Wie aber ist im Einzelfall vorzugehen?

Bisher empfahl der G-BA einen Lipidsenker, z. B. ein Statin, zur Primärprävention für Personen, deren Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall in den folgenden zehn Jahren bei 20 % oder mehr liegt. Seit Ende 2024 ist durch eine Neuregelung allerdings eine Therapie schon ab 10 % möglich. In dem Bereich zwischen 10 % und 20 % biete es sich an, das individuelle Risiko gegen die potenziellen unerwünschten Wirkungen der Lipidsenker abzuwägen, schreibt Prof. Dr. Michael Freitag von der Universität Oldenburg. Gleichzeitig  stellt er eine Verunsicherung auf Patienten- und Arztseite fest. Wie also sollte man sich entscheiden? In seinem Beitrag ordnet der Autor Empfehlungen zum Einsatz von Statinen zur Primärprävention ein.

Aktuelle Analysen geben etwas mehr Klarheit

Eine Orientierung bieten Studiendaten aus Zürich: Laut einer Untersuchung von 2019 überwiegt der Nutzen einer Statintherapie bei Männern im Alter von 40–44 Jahren ab einem kardiovaskulären Risiko von 14 %, bei 70–75-Jährigen erst ab 21 %. Bei Frauen galten jeweils etwas höhere Risikogrenzwerte (17 % und 22 %). In ihrem Leitfaden „Medikamentöse Cholesterinsenkung zur Vorbeugung kardiovaskulärer Ereignisse“ hält die AkdÄ* 2023 zudem fest:

  1. Moderat dosiert können Statine das Herzinfarktrisiko und die Mortalität senken.
  2. Der Effekt wird größer, je höher das Ausgangsrisiko liegt. Dieses lässt sich z. B. über arriba oder SCORE2 berechnen.
  3. Ein Nutzen in der Primärprävention ist auch bei Seniorinnen und Senioren nicht gesichert.
  4. Dass eine hohe Statindosis oder die Dosisanpassung an bestimmte LDL-Zielwerte in der primären Prävention von Vorteil sind, konnte bisher nicht bewiesen werden.

Entgegen dieser Aussagen wird in der Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) die Strategie am LDL-Zielwert ausgerichtet: „the lower, the better“. Grundlage ist die CTT**-Analyse von 2010, nach der das kardiovaskuläre Risiko proportional zu dem Ausmaß der absoluten LDL-Reduktion sinkt. 

Die AkdÄ argumentiert hingegen: Aus der CTT-Analyse ergibt sich kein Vorteil einer Hochdosistherapie in der Primärprävention, weil dort kein Einfluss des LDL-Ausgangswerts auf die berechnete Assoziation zwischen LDL-Reduktion und Risiko gezeigt wurde. Mit dem Verweis auf die ESC-Leitlinie, die zudem bei vergleichsweise niedrigeren Zehn-Jahres-Risiken bei unter 50-Jährigen eine Behandlungsempfehlung ausspricht, weisen manche Labore bei bestimmten LDL-Werten bereits auf einen Therapiebedarf hin. Dies werfe Fragen bei Kolleginnen und Kollegen auf, schreibt Prof. Freitag und hält dagegen, dass dem Labor das individuelle kardiovaskuläre Risiko der betroffenen Person nicht bekannt ist.

Für das Vorgehen in der Praxis empfiehlt der Autor, zunächst das individuelle Risiko der Patientin oder des Patienten zu bestimmen. Dann solle man diesen oder diese in Ruhe über dessen Bedeutung sowie über die Statintherapie aufklären. Dabei sollte klar werden, dass Statine zwar ein Risiko senken können, aber keinen 100%igen Schutz z. B. vor einem Herzinfarkt bieten. Zudem besteht das Risiko unerwünschter Wirkungen. Jede Verordnung oder auch Dosisänderung eines lipidsenkenden Medikaments solle dann Ergebnis einer partizipativen Entscheidung sein, schließt der Autor.

*Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft
**Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration
 

Quelle: Freitag MH. Arzneiverordnung in der Praxis 2025; 52: 23-25