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Diabetes-Internat: Neben Algebra auch das Leben mit der Krankheit auf dem Lehrplan

Gesundheitspolitik Autor: Antje Thiel

Die Schülerinnen Melina, Kati und Emma mit der Diabetes-Koordinatorin Janeta Linder. Die Schülerinnen Melina, Kati und Emma mit der Diabetes-Koordinatorin Janeta Linder. © NSI
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Urlaub am Meer, endlose Sandstrände und rauer Küstencharme. Für die meisten Menschen ist ­­ St. Peter-Ording ein perfekter Ort, um dem Alltag zu entfliehen. Anders die Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, die hier im Nordsee-Internat leben und lernen. Ihr Ziel: Den Alltag mit Stoffwechsel­erkrankung und schulischen Verpflichtungen besser zu schultern.

Es sind nur wenige Schritte vom Nordsee-Internat zum Deich von Böhl, einem beschaulichen und ruhigen Ortsteil des Urlaubsorts St. Peter-Ording. Dort trifft man zu jeder Jahreszeit Touristen, die sich beim Spazierengehen oder Radfahren gegen den Wind stemmen, Urlaubsfotos mit Leuchtturm schießen und den Blick über die weiten Salzwiesen und den Strand schweifen lassen.

Die Kinder und Jugendlichen, die im Nordsee-Internat leben und lernen, sieht man seltener am Deich oder am Strand. Ihr Tagesablauf ist straff getaktet und lässt ihnen nicht viel Zeit für typische Touristen-Aktivitäten: Aufstehen, gemeinsames Frühstück, Unterricht in einer der fußläufig erreichbaren Schulen des Ortes, gemeinsames Mittagessen, Lernzeit, Freizeitkurse, gemeinsames Abendessen, bei Bedarf noch Förderstunden – und zwischendurch natürlich den Diabetes im Blick behalten. Bis zu 25 – aktuell sind es 15 – der 120 Internatsplätze stehen für Kinder mit Typ-1-Diabetes zur Verfügung. Sie leben hier, weil sie zu Hause nicht mit ihrem Diabetes klarkamen oder schulische Schwierigkeiten hatten. Häufig genug auch beides. Dazu familiäre und pubertäre Konflikte rund um den Typ-1-Diabetes.

Diabetes-Internate in Deutschland

  • Nordsee-Internat: Kooperation mit allen Schulformen vor Ort (Grundschule, Gemeinschaftsschule, G9-Gymnasium, Berufsschule). Spezielle Expertise für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes, Asthma und Neurodermitis. Standort: St. Peter-Ording
  • CJD Berchtesgaden: Alle Schulformen, medizinisch-schulische Rehabilitation und berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen für chronisch kranke Kinder und Jugendliche (Asthma, Neurodermitis, Allergien, Diabetes, Adipositas, Mukoviszidose). Standort: Berchtesgaden
  • Weierhof: Ganztagsgymnasium mit zugeordnetem Internat für alle Schularten. Schulische und pädagogische Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes, Betreuung durch Diabetes-Fachkräfte. Standort: Bolanden

Stress und Streit mit den Eltern wegen des Diabetes

„Meine Mutter und ich haben uns sogar in der Öffentlichkeit oder vor Freunden über den Diabetes gestritten“, erinnert sich Kati Schmidtke, mit 13 Jahren derzeit die Jüngste im Diabetes-Haus. Den Wechsel ins Internat hat sie sich zwar nicht gewünscht, doch trotz gelegentlichem Heimweh ist sie mittlerweile froh, hier zu sein. Das gilt auch für den 16-jährigen Dorian Siehl: „Ich war zu Hause wirklich schlimm. Es gab Tage, an denen ich mich schlicht geweigert habe, meinen Blutzucker zu messen und mich um meinen Diabetes zu kümmern – ich wollte ihn verdrängen.“ Das kommt Melina Lorenz (16) bekannt vor: „Zu Hause gab es manchmal Stress mit meinen Eltern, weil ich behauptet habe, dass ich meinen Zucker gemessen habe – obwohl das gar nicht stimmte.“ Und die 17-jährige Emma Sauer erzählt: „Ich konnte meinen Diabetes nicht ertragen, deshalb war ich unerträglich für andere. Ich habe großen Res­pekt vor meinen Eltern, die mussten einiges mit mir aushalten.“ Seit sie im Internat lebt, hat sich die Beziehung zu ihren Eltern verbessert. „Die Entfernung tut einfach gut“, beschreibt Emma Sauer die Situation, „wir streiten nicht mehr über diese alltäglichen Dinge, weil ich sie nicht mehr mit der Familie teile. Und auf einmal freut man sich sogar wieder auf zu Hause.“ Doch es ist ein Prozess, bis sich alle Familienmitglieder an die neue Situation gewöhnt haben. Der Pädagogische Leiter Rüdiger Hoff berichtet: „Manche Eltern haben ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr Kind hierher gebracht haben, das vielleicht auch nicht ganz freiwillig hierher wollte. Es ist immer schwer, das eigene Kind loszulassen und anderen anzuvertrauen.“ Viele Eltern hegen auch sehr hohe Erwartungen an das Internat: „Beim Elternsprechtag gilt die erste Frage immer dem HbA1c, die zweite den Schulnoten“, erzählt Hoff, „da müssen wir oft an die Geduld appellieren.“ Bei den meisten Jugendlichen verbessern sich Stoffwechsellage und Schulnoten nach einer Weile im Internat aber deutlich. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe. Zum einen leistet das Internat eine lückenlose Diabetesbetreuung. Tagsüber begleiten zwei Diabetes-Koordinatorinnen die Kinder und Jugendlichen. Um 21 Uhr werden sie von zwei Nachtwachen abgelöst. „Die Nachtwache geht reihum in die Zimmer und misst die Werte. Bei einigen blutig, bei anderen wird gescannt, bei anderen auf das CGM-Gerät geschaut“, erklärt Diabetes-Koordinatorin Romy Rena Lange. Zumindest die jüngeren Kinder mit Diabetes werden auch bei Klassenausflügen oder -reisen von einer der Diabetes-Fachkräfte begleitet. Ihre Kollegin Janeta Linder ergänzt: „Wenn die Älteren ohne Begleitung an einer Klassenfahrt teilnehmen, dann haben die Lehrkräfte die Sicherheit, dass hier im Internat rund um die Uhr jemand erreichbar ist, der in Diabetesfragen unterstützen kann.“

Lückenlose pädagogische und medizinische Betreuung

Medizinisch werden die Internatsbewohner vom Klinikum Itzehoe betreut. Einmal im Quartal fahren sie mit VW-Bussen in die gut 80 Kilometer entfernte Diabetes-Ambulanz. Dort bestimmt die Kinderdiabetologin Nadine Scheffler in der Internats-Sprechstunde zusammen mit einer Diabetesberaterin HbA1c-Wert, Größe und Gewicht, schaut sich die Spritzstellen an, liest die Geräte aus und spricht mit ihren Patienten über deren Glukoseverläufe. Einmal monatlich kommt die Ärztin nach St. Peter-Ording zur Beratung, einmal pro Woche schaut außerdem eine Diabetesberaterin vorbei. „Wenn die Kinder ins Internat kommen, ist ihre Stoffwechseleinstellung meist sehr schlecht, oft gab es auch schon mehrere Entgleisungen“, erzählt die Diabetologin. „Diabetes ist eine Erkrankung, die sehr viel Disziplin und Struktur erfordert. Das können nicht alle Familien zu Hause leisten.“ Mit der Pubertät wird das Zusammenleben ohnehin schwieriger. „In manchen Fällen ist dann eine Fremdunterbringung wie im Nordsee-Internat sinnvoll. Dort leben alle Kinder mit Diabetes in einem Haus zusammen. Alle müssen spritzen und messen. Ich sehe, dass es vielen in der Gruppe leichter fällt, die Therapie umzusetzen“, meint Scheffler.

Misst ein Schüler seinen Zucker, tun andere das auch

Die Gruppendynamik ist tatsächlich ein weiterer Pluspunkt des Internats, wie Melina Lorenz bestätigt: „Ich habe zum Beispiel zu Hause meinen Katheter nicht immer regelmäßig gewechselt. Wenn ich hier sehe, dass auch andere das tun müssen, bin ich eher motiviert, mich darum zu kümmern.“ Und Dorian Siehl sagt: „Hier kann ich den Diabetes nicht verdrängen. Wenn einer seinen Zucker misst, ist das wie eine Welle, bei der die anderen mitgehen.“ Für die Diabetes-Koordinatorin Romy Rena Lange ein ganz typischer Effekt: „Erst Mitläufer, dann Selbstläufer“, lacht sie. Daneben sind es die klaren Strukturen des Internats, die den Kindern Halt geben. So meint Rüdiger Hoff: „Es darf nicht zu rigoros und überwachend zugehen, doch im Grunde brauchen Kinder Regeln. Viele Kinder mit Diabetes rebellieren gegen ihre Erkrankung, wollen sich nicht darum kümmern. Hier müssen sie den Diabetes-Fachkräften sieben Werte binnen 24 Stunden vorlegen, auch wenn manche versuchen, sich darum herumzumogeln.“ Oder wie Kati Schmidtke es ausdrückt: „Hier stehe ich mit meinem Diabetes stärker unter Beobachtung.“ Gewissenhaftes Verhalten wird mit einem Bonussystem belohnt. Wer sich an die Diabetes-, Haus- und Umgangsregeln hält, sammelt Punkte, die sich in Vergünstigungen eintauschen lassen. Der Internatsaufenthalt selbst muss dagegen in harter Währung bezahlt werden. Bei Kindern mit Diabetes sind es in der Regel die Sozial- und Jugendämter, die ihn finanzieren. Nach SGB IX (Eingliederungshilfe) haben die Kinder einen Rechtsanspruch auf diese Leistungen. Doch Hoff sagt: „Das kann ein schwieriger Gang durch die Instanzen werden. Es kommt vor, dass niemand zuständig sein möchte, alle verweisen dann die Eltern an andere Behörden. Normalerweise bin ich kein Freund juristischer Auseinandersetzungen, doch im Zweifelsfall rate ich Eltern, sich anwaltlich beraten zu lassen, damit ihren Kindern diese Leistungen bewilligt werden.“

Medical-Tribune-Bericht

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