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Arzt zur Lee-Studie: „Nicht im mindesten evidenzbasiert“

Autor: Ulrike Viegener

Die Studie macht zwar nochmal die Problematik deutlich, viel mehr scheint sie jedoch nicht bieten zu können. Die Studie macht zwar nochmal die Problematik deutlich, viel mehr scheint sie jedoch nicht bieten zu können. © iStock/ballykdy
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Uralte Telefoninterviews und keine belastbaren Daten zu Interaktionen – Professor Dr. Christoph Ritter­ aus Greifswald legt die Mängel der Lee-Studie offen. Man sei genauso schlau wie zuvor. Die existierende Wissenslücke müsse jedoch geschlossen werden.

Auf den ersten Blick suggeriert die Studie von Lee et al. ein enormes Ausmaß an Interaktionen bei der Krebstherapie, maßgeblich verursacht durch komplementäre/alternative Präparate. Ist es wirklich so dramatisch?

 Professor Dr. Christoph Ritter: Über Interkationen zwischen schulmedizinisch etablierten Krebstherapeutika und komplementären/alternativen Therapieansätzen ist nur wenig bekannt. Und daran hat sich auch mit dieser Studie nichts geändert ...

Sie stellen die Aussagekraft der Studie infrage?

Prof. Ritter: Ja, die Aussagekraft der Studie ist aus meiner Sicht sehr begrenzt, weil sie einige methodische Mängel aufweist. Es fängt damit an, dass die grundlegenden Telefon­interviews vor rund zehn Jahren geführt wurden. Das heißt, wir hatten es damals mit einem ganz anderen Spektrum schulmedizinisch etablierter Krebsmedikamente zu tun als heute. Innovative Therapeutika wie zielgerichtete Krebsmedikamente und Immuntherapeutika waren zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht eingeführt. Aber gerade diese Medikamente haben ein hohes Interaktionspotenzial, weil sie erstens länger angewendet werden als klassische Zytostatika, und weil sie zweitens über Enzyme verstoffwechselt werden, die durch eine Vielzahl anderer Medikamente beeinflusst werden.

Weiter ist kritisch anzumerken, dass die Telefoninterviews im Schnitt vier Monate nach Abschluss der Chemotherapie stattfanden. Bei einem derart langen Zeitraum ist von Verzerrungen infolge von Erinnerungsdefiziten auszugehen.

Die Wirkstoffe, die die Patienten nach eigener Aussage angewendet hatten, wurden dann mithilfe entsprechender Software-Programme auf Interaktionen geprüft. Das Problem dabei: Belastbare Daten zu Interaktionen zwischen schulmedizinisch etablierten Krebstherapeutika und komplementären/alternativen Präparaten gibt es kaum. Die Datenbanken, die für die Studie genutzt wurden, sind deshalb in diesem Kontext nur sehr begrenzt hilfreich.

Dann lässt sich wohl auch wenig sagen zur klinischen Relevanz?

Prof. Ritter: Das ist ein entscheidender Punkt. Die klinische Relevanz der identifizierten potenziellen Interkationen ist völlig offen. Wenn ein Software-Programm bei einer bestimmten Wirkstoffkombination einen Treffer anzeigt, heißt das nur, dass irgendwo eine entsprechende Interaktion beschrieben wurde.

In dieser Studie bestanden die komplementären/alternativen Interaktionspartner überwiegend aus Präparaten mit Vitaminen und anderen Supplementen. In aller Regel wird es sich bei den Treffern um präklinische Daten – also Ergebnisse von Untersuchungen an Zellkulturen oder tierexperimentelle Daten – handeln. Klinische Interaktionsstudien gibt es in diesem Kontext so gut wie nicht. Bei den Interaktionen, die bei der Recherche als Treffer angezeigt wurden, ist deshalb völlig unklar, ob sie für die Patienten eine klinisch Relevanz besitzen.

Aber es werden in der Studie doch Beispiele genannt, welche Interaktionen zu Wirkverlusten oder zu Toxizitätsanstiegen von Chemotherapeutika führen können.

Prof. Ritter: Ja, das ist einer der Aspekte, wo die Studie völlig ungesicherte Aussagen macht. Es werden Behauptungen aufgestellt, die nicht im mindesten evidenzbasiert sind. Die erhobenen Daten werden ungefiltert und undifferenziert präsentiert und bewertet. Zum Beispiel werden Interaktionen ohne nähere Angaben – etwa zur Dosis oder Dauer der Anwendung – als „major“ klassifiziert. Wie Sie schon eingangs sagten: Es wird suggeriert, dass speziell zwischen der schulmedizinisch etablierten Therapie und komplementären/alternativen Therapieansätzen ein großes Ausmaß an Interaktionen zu befürchten ist. Einer näheren Überprüfung hält diese Aussage aber nicht stand.

Eine sehr dünne Datenlage und zudem methodische Mängel – da bleibt wohl nicht allzu viel übrig?

Prof. Ritter: So harsch hätte ich es vielleicht nicht formuliert. Aber es stimmt schon: Der Wert der Studie besteht darin, dass sie erneut auf eine Problematik aufmerksam macht, deren Ausmaß wir nicht einschätzen können und die wir unbedingt besser erforschen müssen. Wir wissen einfach noch viel zu wenig über komplementäre/alternative Krebstherapien, und das schließt das Risiko von Interaktionen ein.

Und was heißt das dann für die Patientenaufklärung?

 Prof. Ritter: Patientenaufklärung ist natürlich ein wichtiges Thema. Mit Blick auf komplementäre bzw. alternative Therapieverfahren sollten Krebspatienten über gesicherte Wirkungen sowie potenzielle Nebenwirkungen und auch Interaktionen Bescheid wissen. Aber Krebspatienten sind meist ohnehin gut informiert.

Ist nicht dieses „Ohnehin“ genau das Problem? Weil die Schulmedizin das Bedürfnis der Patienten nach unterstützenden Therapieangeboten oft ignoriert, informieren sich die Betroffenen anderswo und suchen sich anderswo Hilfe. Dann kommt es zur unkontrollierten Präparatanwendung, die an den behandelnden Ärzten vorbeigeht. Wäre es nicht wichtig, dass die Schulmedizin komplementäre Therapien wesentlich stärker zu ihrer Sache macht und so die Fäden in der Hand behält?

Prof. Ritter: Das unterstreiche ich. Es gibt auch im Bereich der Schulmedizin schon Bestrebungen, hier eine bessere flächendeckende Integration zu erreichen. Wichtig ist, dass wir erst einmal valide Daten haben, und die müssen wir dann kommunizieren. Dafür Standards zu erarbeiten, ist ein Ziel des Verbundprojekts Kokon (Kompetenznetz Komplementärmedizin in der Onkologie). Erste Pilotprojekte zur Schulung von Ärzten, Pflegekräften und Patienten sind bereits gestartet.

Professor Dr. Christoph Ritter, Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald, Leiter des Arbeitskreis Onkologische Pharmazie der DGHO Professor Dr. Christoph Ritter, Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald, Leiter des Arbeitskreis Onkologische Pharmazie der DGHO © Prof. Christoph Ritter