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Vestibulopathie Beeinträchtigte Orientierung und Kognitionsverlust drohen

Autor: Manuela Arand

Bei bilateraler Vestibulopathie gehen Neuronen im Hippocampus verloren. (Agenturfoto) Bei bilateraler Vestibulopathie gehen Neuronen im Hippocampus verloren. (Agenturfoto) © Tunatura– stock.adobe.com
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Fällt das vestibuläre ­System aus, kommt es nicht nur zu Schwindel. Auch höhere kognitive Funktionen inklusive räum­liche Orientierung und Koordination werden gestört. Das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, nimmt zu.

Patienten mit bilateraler Vestibulopathie brauchen visuelle Informationen, um den Ausfall ihres Gleichgewichtsorgans zu kompensieren. Wenn sie die Augen schließen, sind sie nicht mehr in der Lage, die Balance zu halten. „Das ist die klassische Sicht auf diese Funktionsstörung, aber da ist mehr als das“, sagte Prof. Dr. Andreas Zwergal vom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum an der Universität München. Die pathophysiologischen Prozesse gehen nach seiner Aussage über vestibulo­okulare und vestibulospinale Reflexbögen ­hinaus. 

Vestibuläre Signale primär ipsilateral verarbeitet

Das vestibuläre System besitzt ein sehr dichtes neuronales Netzwerk, das strickleiterartig in den Thalamus wie auch in viele kortikale Areale projiziert, vor allem in die Insula und die temporoparietale Junktion. Bei Rechtshändern werden vestibuläre Signale primär in der rechten Hemisphäre verarbeitet, bei Linkshändern entsprechend links. Dies ist ein Unterschied zu den meisten anderen sensorischen Systemen, bei denen die kontralaterale Hemisphäre zur Signalprozessierung dient, erläuterte der Kollege. Vor allem für Rechtshänder ist das insofern relevant, weil die rechte Hemisphäre maßgeblich an räumlicher Orientierung und Körperwahrnehmung beteiligt ist. 

Bestimmten Hirnregionen lassen sich dabei verschiedene Funktionen zuordnen. So registriert der parietale Kortex räumliche Gegebenheiten aus der Eigenperspektive (egozentrisch), Hippocampus ein Abbild der Umgebung aus Fremdperspektive (allozentrisch) – es entspricht quasi einer Landkarte. Im Parahippocampus wiederum werden einzelne räumliche Orientierungsmerkmale verarbeitet. Die Areale, in denen diese Informationen prozessiert werden, überlappen sich mit denen, in die vestibuläre Signale einlaufen. 

Gestörte allozentrische Navigation im Raum

Bei bilateraler Vestibulopathie gehen Neuronen im Hippocampus verloren. Die allozentrische Navigation im Raum wird gestört. Dies zeigen Experimente, in denen Patienten im virtuellen Wasserbecken eine Plattform erreichen sollen. Sie brauchen dafür deutlich länger als Patienten mit gesundem Innenohr. 

Prof. Zwergals Arbeitsgruppe ist diesen Beobachtungen weiter nachgegangen. Sie hat Patienten mit bilateralem Vestibularausfall durch einen Flur geschickt mit der Aufgabe, fünf Gegenstände zu finden, deren Position ihnen vorher gezeigt worden war. Sie trugen dabei eine Brille, welche die Augenbewegungen dokumentierte, um nachzuvollziehen, welche Strategien die Patienten zur räumlichen Orientierung nutzen. Diese meisterten ihre Aufgabe gut, wenn sie den Weg kannten, auf dem die Gegenstände zu finden waren. Mussten sie jedoch eine neue, unbekannte Route einschlagen, schnitten sie wesentlich schlechter ab als Gesunde. „Das zeigt erneut, dass es sich um ein Defizit in der allozentrischen Navigation durch Räume handelt“, so Prof. Zwergal. Die Patienten nutzten außerdem seltener Abkürzungen, um zum Ziel zu gelangen, und mussten häufiger anhalten, um sich neu zu ­orientieren. 

Nicht nur die Orientierung im Alltag leidet bei bilateraler Vestibulopathie, auch die Kognition, wie Auswertungen des National Health and Nutrition Examination Survey ergaben. Teilnehmer mit vestibulärer Dysfunktion schnitten im Digit Symbol Substitution Test (DSST) signifikant schlechter ab. Der Unterschied zur Kontrollgruppe entsprach etwa fünf Jahren Hirnalterung, berichtete Prof. Zwergal. Andere Studien bestätigen diese Befunde: Sie zeigen ein erhöhtes Demenzrisiko und sogar eine Dosiswirkungsbeziehung zwischen Ausprägung der vestibulären Funktionsstörung und kognitiven Defiziten. 

Kongressbericht: 8th Congress of the European Academy of Neurology