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Psychotherapie Die App kann den Arzt nicht ablösen

Autor: Dr. Joachim Retzbach

Grundsätzlich könnten Online­interventionen gut wirken, so Prof. Berger. (Agenturfoto) Grundsätzlich könnten Online­interventionen gut wirken, so Prof. Berger. (Agenturfoto) © zinkevych – stock.adobe.com
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Digitale Gesundheitsanwendungen für psychische Störungen werden häufig vom Hausarzt verordnet. Sie taugen jedoch nur in seltenen Fällen als alleiniger Ersatz für eine Psychotherapie. Denn auch im Verlauf einer digitalen Behandlung bleibt der Kontakt zum Arzt oder Therapeuten wichtig.

Seit 2019 können digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden. Apps und Onlineanwendungen zur Therapie psychischer Störungen stellen 20 der derzeit 48 verschreibungsfähigen digitalen Angebote (Stand: März 2023). Sie lassen sich beispielsweise flankierend zu einer Psychotherapie oder auch für die Wartezeit darauf einsetzen. 

Die Mehrzahl dieser DiGA werden von Hausärzten verschrieben, weniger als ein Drittel durch Psych­iater und Psychologische Psychotherapeuten. „Das deutet darauf hin, dass 60 bis 70 % der DiGA als alleinige Intervention für eine psychische Erkrankung gedacht sind“, sagte Prof. Dr. ­Thomas ­Berger von der Universität Bern.

Grundsätzlich könnten Online­interventionen gut wirken, so Prof. Berger. Das zeigt die kontinuierlich wachsende Evidenz zur Wirksamkeit digitaler Therapien. Der Teufel steckt allerdings im Detail. So wurden viele Studien online an selektierten Stichproben durchgeführt. In diesen fällt die Wirksamkeit meist größer aus als bei Untersuchungen mit Patienten in der Routinepraxis. Ein entscheidender Aspekt besteht laut dem Experten darin, ob Apps begleitet oder unbegleitet eingesetzt werden und ob sie in ein Behandlungskonzept eingebettet sind.

Ist eine DiGA das Richtige für meinen Patienten?

Damit die Verschreibung einer DiGA von Erfolg gekrönt ist, lohnt es sich laut Prof. Dr. Thomas Berger von der Universität Bern, zu Beginn der Therapie diese vier Indikationsfragen zu beantworten:

  • Ist die Patientensicherheit gewährleistet?

  • Gibt es eine Anwendung, die zur spezifischen Störung des Patienten passt?

  • Verknüpft der Patient selbst eine positive Therapieerwartung mit der App?

  • Findet zu Beginn der Therapie eine tatsächliche Nutzung der Intervention durch den Patienten statt?

Durch Begleitung verdoppelt sich der Effekt einer DiGA

„Mit dem Download einer App ist es nicht getan“, stellte Prof. Berger klar. Einer Metaanalyse aus dem Jahr 2021 zufolge liegt die Effektstärke bei einer begleiteten Anwendung fast doppelt so hoch im Vergleich zu Patienten, die sich selbst überlassen bleiben, selbst wenn der Kontakt zum Arzt oder Psychologen nur zehn Minuten pro Woche beträgt.

Auch wie die App vom Arzt „verkauft“ wird, macht einen Unterschied. Sagt man den Patienten auf der Warteliste, die DiGA überbrücke die Zeit bis zur „richtigen“ Therapie, könne das nicht funktionieren, betonte Prof. Berger. Eher solle man sie eine „Vorbereitung“ auf die Psychotherapie nennen, um die Patienten zur Verwendung zu motivieren. Auch eine 2022 von Prof. Bergers Arbeitsgruppe publizierte Untersuchung weist die therapeutische Begleitung als wichtigsten Wirkfaktor aus. Regelmäßiger Kontakt zum behandelnden Spezialisten erhöhte die Adhärenz bei der Nutzung des Programms, zudem etablierte sich ein Arbeitsbündnis, vergleichbar dem einer Face-to-Face-Therapie.

Eine Metaanalyse zu DiGA gegen Insomnie aus dem Jahr 2022 deutet darauf hin, dass desktopbasierte Programme effektiver sind als Apps für das Smartphone. Bei einem Onlinekurs müssen die Patienten sich die Zeit nehmen, sich zu Hause an den Rechner zu setzen. Das fördere die Haltung „Ich muss an mir arbeiten“, erklärte Prof. Berger. So käme man leichter auf die Nutzungsdauer von 20 und mehr Stunden, die für eine Wirksamkeit meist nötig seien. Mit einer App auf dem Mobiltelefon verbinden dagegen viele Patienten die Erwartung, dass sich „mit wenigen Klicks“ etwas erreichen lässt.

Die meisten DiGA für psychische Erkrankungen bieten derzeit vor allem Psychoedukation, Übungen zur Selbstdurchführung, Symptomtagebücher und Rückmeldungen über den Therapieverlauf. Am ehesten seien diese Ansätze mit „interaktiven Selbsthilfebüchern“ zu vergleichen, so Prof. Berger. Für das Gebotene erscheinen dem Experten die Preise von ca. 500 Euro pro App, die nicht selten von den Herstellern zu Beginn der Versorgung aufgerufen werden, recht hoch. Technisch anspruchsvollere Virtual- und Augmented-Reality-Intervention gibt es zwar ebenfalls, diese sind aber noch weniger etabliert und erforscht. Sie eignen sich Prof. Berger zufolge insbesondere für Expositionsübungen.

DiGA-Verzeichnis

Im DiGA-Verzeichnis des BfArM findet sich zu jeder Anwendung eine ausführliche Erläuterung sowie eine Beschreibung der jeweiligen Indikationsbereiche und der Evidenz, auf deren Basis die – vorläufige oder dauerhafte – Aufnahme in das Verzeichnis erfolgt ist. https://diga.bfarm.de/

Derzeit stagnieren die Verschreibungen von digitalen Gesundheitsanwendungen. 20 % der Verordnungen werden nie eingelöst. „DiGA sind noch nicht in der Versorgung angekommen“, resümierte Prof. Berger. Das liege auch daran, dass die Implementierung, die Verwendung und Begleitung der digitalen Angebote in Deutschland nicht systematisch genug eingeführt wurden.

Jeder zweite Patient wünscht sich persönliche Treffen

In anderen Ländern geht man das Thema digitale Gesundheit strukturierter an, etwa in Australien, Kanada oder den skandinavischen Staaten. In Schweden können psychisch Erkrankte – nach persönlicher oder telefonischer Klärung des Bedarfs – frei zwischen einer Face-to-Face-Therapie und der Behandlung in einer digitalen psychiatrischen Klinik wählen. Die Onlineprogramme bieten immer eine Begleitung durch speziell trainierte Psychiater oder Psychologen. Den bisherigen Erfahrungen nach bevorzugen rund 50 % der Patienten eine Onlinetherapie, die anderen wünschen sich persönliche Treffen.

Überhaupt ist die Personalisierung Prof. Berger zufolge eine der großen kommenden Aufgaben für die Entwicklung digitaler Behandlungen. Die Vorlieben der Patienten hätten einen großen Einfluss auf Wirksamkeitserwartung und tatsächliche Nutzung der Angebote. In Zukunft soll es möglich sein, nicht nur die Auswahl der Anwendung auf den Patienten abzustimmen, sondern auch einzelne Elemente der Intervention je nach Symptomatik und Bedürfnissen zu kombinieren.

Quelle: Kongressbericht 13. Psychiatrie-Update-Seminar