Anzeige

Soziale Vererbung Die Kinder von Amor und Psyche

Autor: Dr. Sonja Kempinski

Wie es den Kindern psychisch erkrankter Eltern geht, wird meistens nicht gefragt. (Agenturfoto) Wie es den Kindern psychisch erkrankter Eltern geht, wird meistens nicht gefragt. (Agenturfoto) © iStock/fizkes
Anzeige

Kinder, deren Eltern psychisch krank sind, haben ein hohes Risiko, selbst zu erkranken. Trotzdem fallen sie in der Gesundheitsversorgung meist durchs Raster. Dabei gibt es sehr wohl Möglichkeiten, ihnen zu helfen.

Drei bis vier Millionen Kinder wachsen in Deutschland mit mindestens einem psychisch kranken Elternteil auf, berichten Emilia Geiger von der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Uniklinikum Marburg und Kollegen. Ihr Risiko für eine psychische Erkrankung ist um ein Vielfaches höher als das von Kindern mental gesunder Eltern. Dies schlägt sich in der Prävalenz psychischer Störungen nieder, die bei betroffenen Kindern um das Zwei- bis Fünfache erhöht ist.

Doch drohen nicht nur seelisch-mentale Probleme. Die ungünstige Konstellation kann auch schwere Folgen für Kognition, Spracherwerb und körperliche Gesundheit der Kinder haben. Trotzdem finden diese Kinder und ihre Nöte kaum Beachtung. Das hat mehrere Ursachen. So suchen psychisch kranke Eltern bezüglich ihrer Kinder selten aktiv Hilfe. Hintergrund sind Schamgefühle oder die Tendenz, auffälliges Verhalten der Kinder zu bagatellisieren. Aber auch die Angst vor Stigmatisierung oder negativen Konsequenzen, wie z.B. einem Sorgerechtsentzug, führen dazu, dass sie die Thematik lieber nicht ansprechen.

Hinzu kommt ein Versagen aufseiten der Therapeuten. So werden psychisch kranke Eltern in ihrer eigenen Therapie oft gar nicht zu ihren Kindern und deren Befindlichkeit befragt, berichten Geiger und Kollegen. Geschweige denn, dass diese in die therapeutischen Bemühungen eingeschlossen würden. Insgesamt fehle es im individuumszentrierten deutschen Gesundheitssystem an familienorientierter Versorgung, bemängeln die Autoren.

Dabei sind betroffene Familien besonders häufig mit psychosozialen Risikofaktoren behaftet, die die Erkrankungswahrscheinlichkeit für die Kinder erhöhen. Dazu zählen:

  • Arbeitslosigkeit, Armut, unzureichende Wohnverhältnisse
  • niedriger Ausbildungsstand der Eltern
  • soziale Rückständigkeit, kulturelle Diskriminierung
  • Trennung oder Scheidung der Eltern, Verlust wichtiger Bezugspersonen
  • Dysharmonie und Konflikte in der elterlichen Beziehung
  • zwei- bis fünffach erhöhtes Risiko für Vernachlässigung, Misshandlung, sexuellen Missbrauch

Eine elterliche psychische Erkrankung kann über zwei Wege Einfluss auf die kindliche Psyche nehmen. Zum einen wird die Vulnerabilität für solche Erkrankungen genetisch vererbt. Bei Angststörungen und Depression geht man von 30–40 % Heritabilität aus, bei bipolaren Störungen und ADHS von 60–80 % und bei Schizophrenie von 73–90 %. Auch für substanzbezogene Störungen wie Alkohol- oder Drogenmissbrauch ist eine genetische Komponente wahrscheinlich. Bemerkenswert ist, dass die Kinder nicht nur ein erhöhtes Risiko für die Erkrankung ihrer Eltern haben, sondern allgemein für psychische Erkrankungen.

Kinder geben sich die Schuld an der Erkrankung der Eltern

Neben den Genen spielen äußere Einflüsse eine Rolle. Dazu gehören pränatale Faktoren wie Alkohol und Rauchen in der Schwangerschaft, aber auch ungünstige Lebensbedingungen (z.B. inadäquate Erziehung, unbefriedigte Grundbedürfnisse). Diese erschweren die gesunde Entwicklung oft deutlich. So sind viele Kinder desorientiert und verängs­tigt, weil sie Verhalten und Probleme des erkrankten Elternteils nicht einordnen können. Oftmals haben sie niemanden, mit dem sie darüber sprechen könnten, sind sie isoliert oder geben sich die Schuld an der Erkrankung der Eltern.

Es mangelt in den Familien an angemessener Betreuung, ältere übernehmen die Elternrolle für jüngere Geschwister oder komplett die Verantwortung für alle. Von großer Bedeutung ist zudem die Abwertung, die die Familien oft von außen erfahren. Die Kinder schämen sich und geraten in immense Loyalitätskonflikte. 

Hilfs- und Beratungsangebote

Doch gibt es für Familien eine Reihe externer Hilfsangebote. Dazu gehören Erziehungsberatung, soziale Gruppenarbeit, Betreuungshelfer und sozialpädagogische Familienhilfe, aber auch (teil-)stationäre Angebote. Damit diese greifen können, müssen die Betroffenen jedoch überhaupt erst erkannt und erreicht werden. Die Autoren fordern deshalb, psychisch kranke Menschen standardmäßig zu ihren Kindern zu befragen. Bei Auffälligkeiten oder Problemen raten sie, unverzüglich aktiv auf die Familien zuzugehen und sie auf ihrem Weg zu den verschiedenen Hilfsangeboten und Institutionen zu begleiten. Aktuell laufen mehrere multizentrische Studien (CHIMPS-NET, COMPARE) zur Versorgungssituation psychisch kranker Eltern und ihrer Kinder, für die noch teilnehmende Familien gesucht werden.

Quelle: Geiger E et al. Hessisches Ärzteblatt 2021; 82: 624-627