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Orphan Diseases Die Lösung fürs Raritätenrätsel

Autor: Dr. Dorothea Ranft

In den vergangenen Jahren wurden in der molekulargenetischen Diagnostik unklarer seltener Erkrankungen große Fortschritte erzielt. In den vergangenen Jahren wurden in der molekulargenetischen Diagnostik unklarer seltener Erkrankungen große Fortschritte erzielt. © iStock/deliormanli
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Fast drei Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer seltenen Erkrankung. Durch die oft fehlende Expertise bei den behandelnden Ärzten dauert es mitunter Jahre, bis die definitive Diagnose steht. Moderne molekulargenetische Verfahren sorgen für Abhilfe.

Eine Krankheit gilt laut gängiger Definition dann als selten, wenn sie bei maximal fünf Betroffenen pro zehntausend Einwohner auftritt. Als „sehr selten“ bezeichnet man Störungen mit einer Prävalenz von weniger als einem Erkrankten pro einer Million Menschen. Allein die europäische Datenbank Orphanet listet derzeit 6.172 verschiedene klinisch definierte seltene Erkrankungen. Über 70 % von ihnen treten nur bei Kindern auf.

Mehr als 4.000 dieser Krankheitsbilder werden als genetisch bedingt eingestuft. Oft handelt es sich um komplexe, schwere und chronische Leiden, die die Patienten und ihre Familien enorm belasten – vor allem dann, wenn die Diagnose unsicher ist oder gar nicht gestellt werden kann.

Jeweils nur eine Handvoll Patienten pro Krankheit

An deutschen Universitätskliniken werden pro Quartal etwa 15.000 Kinder mit unklarer Diagnose und vermuteter seltener Erkrankung behandelt, schreiben Prof. Dr. Heiko Krude von der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Kollegen.

Etwa 80 % der jungen Patienten mit einer solchen auch Orphan Disease genannten Störung verteilen sich auf lediglich 150 relativ häufige und teils gut bekannte Krankheitsbilder wie zystische Fibrose (1 Betroffener pro 3.000 Einwohner), angeborene Hypothyreose (1 pro 3.000) und Phenylketonurie (1 pro 10.000). Die mehreren Tausend sehr seltenen Krankheiten mit weniger als einem Betroffenen pro einer Million Einwohner verteilen sich auf weniger als 1 % der Patienten. Aufgrund der geringen Prävalenz haben die behandelnden Ärzte oft keinerlei Erfahrung mit diesen Störungen. So vergehen mitunter Jahre bis zur Diagnosestellung.

In den vergangenen Jahren wurden in der molekulargenetischen Diagnostik unklarer seltener Erkrankungen große Fortschritte erzielt. Ermöglicht wurden diese durch die Einführung schneller Sequenzierungstechniken, etwa dem Next-Generation-Sequencing (NGS). Mittels Exom- und Panelanalyse können die proteinkodierenden Bereiche in einer Vielzahl relevanter Gene zeitgleich untersucht und die unterschiedlichsten Mutationen nachgewiesen werden. Außerdem kennt man inzwischen auch einige Orphan Diseases, bei denen die molekulare Diagnostik ganz neue Therapiechancen eröffnet. Ein Beispiel sind bestimmte Formen der Phenylketonurie (s. Kasten).

Neue Erkenntnisse zur Phenylketonurie

Die Phenylketonurie wird überwiegend durch Mutationen im Gen der Phenylalaninhydroxylase verursacht. Es gibt aber auch Patienten mit Störungen im Stoffwechsel des Kofaktors Tetra­hydrobiopterin (BH4). Diese Kranken müssen, anders als solche mit der herkömmlichen Erkrankungsform, mit Neurotransmittervorstufen oder BH4 behandelt werden. Eine weitere, erst kürzlich erkannte und sehr seltene Variante der Phenylketonurie entsteht durch Mutationen im ­DNAJC12-Gen. Die Therapie erfolgt analog dem Vorgehen bei den Kofaktordefekten. Aktuelle Daten zu einem vollkommen neuen Behandlungskonzept legen nun nahe, dass eine therapeutische RNA die Phenylalaninhydroxylaseproteine mutationsspezifisch stabilisieren kann. Somit dürfte auch bei der Phenylketonurie als vergleichsweise häufiger ­Orphan ­Disease die molekular­diagnostische Diagnose therapierelevant werden.

Untersucht wurde der Stellenwert des NGS in dem Innovationsprojekt TRANSLATE-­NAMSE. Dieses schloss mehr als 3.600 Kinder und Jugendliche mit klinischem Verdacht auf eine seltene Erkrankung, aber ohne Vorliegen eindeutiger oder molekulardiagnostischer Befunde, ein. Mittels Fallkonferenzen und genetischen Analysen konnte die auslösende Veränderung bei einem Drittel der jungen Patienten identifiziert werden. Mit der Exomsequenzierung wurden dabei fast ausschließlich sehr seltene Erkrankungen diagnostiziert, von denen 20 % erst seit längstens drei Jahren bekannt waren. Bei vielen Teilnehmern des Projekts ermöglichten bereits die interdisziplinären Fallkonferenzen die definitive Diagnosestellung aufgrund der vorliegenden Befunde. Gelang das nicht, wurde in Zusammenarbeit mit Humangenetikern über die Indikation zur Exomsequenzierung entschieden.

Spezialambulanzen an den Universitäten

Für die Routineversorgung empfehlen die Autoren, den etablierten Weg der Überweisung an eine universitäre Spezial­ambulanz. Kann dort keine Diagnose gestellt werden, sollte fallkonferenzbasiert über die Indikation zur molekulargenetischen Testung entschieden werden. Wie die Zusammenarbeit in der Praxis funktioniert, demonstrieren Prof. ­Krude und Kollegen an einem Fallbeispiel: Bei einem vierjährigen Mädchen stellte der Kinderarzt eine Entwicklungsverzögerung mit Kleinwuchs und früh­manifester Adipositas fest. In der Hochschulambulanz fiel zusätzlich ein zentraler ­Diabetes ­insipidus ­centralis und ein Wachstumshormonmangel auf. Häufigere Differenzialdiagnosen wie Prader-Willi-Syndrom und Pseudohypoparathyreoidismus konnten ausgeschlossen werden. Die Exomsequenzierung in einem Zentrum für seltene Erkrankungen ergab letzten Endes eine Mutation im ARNT2-Gen, deren Bedeutung mittels Phänotypisierung und Familienuntersuchung nachgewiesen wurde.

Quelle: Krude H et al. Monatsschr Kinderheilkd 2022; 170: 12-20; DOI: 10.1007/s00112-021-01354-y