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Virtual und Augmented Reality Die Realität erweitert sich

Medizin und Markt Autor: Isabel Aulehla

VR-Brille auf und schon kann das Team virtuell für Notfälle üben. VR-Brille auf und schon kann das Team virtuell für Notfälle üben. © Boris Dahm
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Schon mal eine medizinische Schulung in Virtual Reality gemacht? Langsam entstehe ein Markt dafür, berichten ­Theda Ockenga und Petra Dahm vom Münchner Unternehmen „StellDirVor“. Auch Prozessdokumentationen in Augmented Reality können in Praxen und Kliniken eingesetzt werden. 

Wie viel Offenheit erleben Sie seitens der Akteure im Gesundheitssystem gegenüber Virtual und Augmented Reality?

Dahm: Die Offenheit ist auf jeden Fall da und sie nimmt zu. Wenn man bei einer Veranstaltung fragt, wer schon mal eine VR-Brille aufge­habt hat, werden es zunehmend mehr Hände. Die große Frage, die immer kommt, lautet: „Was bringt mir das Ganze?“ Da geht es darum, klar zu definieren, mit welchem Mehrwert VR eingesetzt werden kann. Wie lauten die Lernziele und wie können wir sie erreichen? Es gibt auch immer mehr Studien, die sich mit therapeutischen Ansätzen von VR oder mit der Unterstützung von Ärzten durch VR befassen. 

Ockenga: Wir bekommen auch Anfragen nach dem Motto „Wir möchten jetzt was mit VR machen“. Das ist schön, weil man merkt, dass die Leute sich mit dem Thema auseinandersetzen möchten. Ein markantes Beispiel ist eine Stationsleitung einer Universitätsklinik, die nächstes Jahr in Rente geht und ihrem Team noch etwas hinterlassen möchte, das innovativ ist. Es hängt also nicht vom Alter ab.

Ist das Interesse bei bestimmten Akteuren größer als bei anderen?

Dahm: Ich würde sagen, das sind unterschiedliche Strömungen. Auf der einen Seite haben wir Anfragen von Medizintechnikunternehmen. Beispielsweise liegen manchmal schon CAD-Daten aus einem Entwicklungsbereich vor, die sie in eine Schulung miteinbauen möchten, um Mitarbeiter anzulernen. Eine andere Strömung kommt aus dem wissenschaftlichen Kontext, in dem immer mehr Anwendungen zu Qualifizierung, Therapie, Prävention und ärztlicher bzw. pflegerischer Zusammenarbeit entstehen. Irgendwann werden sich diese Strömungen in der Mitte treffen, der Schulungsbereich und der prozessuale Bereich. 

Ockenga: Ich würde ergänzen: Es gibt einige Bereiche, die sich leichter damit tun, Dinge auszuprobieren. Das liegt u.a. an geografischen Vorteilen, an Förderstrukturen. Wir merken an den Anfragen, in welchen Bundesländern Augenmerk darauf gelegt wird, dass solche Möglichkeiten verfügbar sind. Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg haben Zug, auch in Norddeutschland und in Sachsen ist gerade viel in Bewegung. Am meis­ten Initiative kommt derzeit noch aus dem universitären Umfeld. Aber auch bei ersten Ärztekammern ist ein Umdenken zu erkennen. 

Virtual was?

Virtual Reality (VR) bezeichnet computergenerierte 3D-Welten, die mittels VR-Headset und Controllern haptisch erfahrbar sind. Die Nutzenden tauchen visuell dabei vollständig in die Welt ein, die tatsächliche Umgebung ist nicht mehr sichtbar.

Augmented Reality (AR) erweitert die Realität um virtuelle Zusatzinformationen. Beispielsweise durch Einblendungen von Zeichen oder Text in Fotos und Videos.

Was erlebt man bei einem medizinischen VR-Simulationstraining? 

Ockenga: Wir könnten einfach sagen: Sie und ich setzen eine VR-Brille auf und dann stehen beide direkt in der virtuellen Notaufnahme – egal, ob wir am gleichen Ort sind oder nicht. Vor uns wird dann der neunjährige Paulo Silva eingeliefert, seine Mutter ist völlig aufgelöst. Es ist unsere Aufgabe, die Mutter zu beruhigen und mit dem Jungen zu reden. Wir müssen herausfinden, was passiert ist und die richtigen Maßnahmen ergreifen. Wir können uns gemeinsam in dem virtuellen Raum bewegen und die Geräte um uns herum betätigen. Ergreifen wir nicht die richtigen Maßnahmen, geht es dem Patienten schlechter und schlechter, wie eben im echten Leben auch. Wenn sich sein Zustand bessert, können wir die Mutter und den Neunjährigen weiter auf Station bringen. Im Anschluss kann man Anhand der Daten ein De-Briefing machen. Das wäre ein Beispiel eines Simulationstrainings. Es gibt auch VR-Anwendungen, die mehr auf das  Lernen fokussiert sind. Dann bekomme ich erklärt, welche einzelnen Schritte anstehen und erhalte im Notfall Unterstützung.  

Wie realitätsnah ist das haptische Erleben? Tippe ich den Arm an und die Blutabnahme erfolgt oder muss ich die Kanüle führen?

Ockenga: Das hängt davon ab, wie das Lernziel definiert ist. Wir haben noch haptische Grenzen. Deshalb sehen wir uns ganz genau an, wo immersive Technologien wie VR sinnvoll eingesetzt sind. Ich würde sagen, bei ganz klassischem Skill-Training, wenn ich lernen möchte, wie ich einen Zugang lege, wie sich das anfühlt, ist VR nicht die richtige Lösung. Wenn es aber darum geht, in einer Stresssituation darauf zu kommen, dass ich diesen Zugang legen muss, ist es das richtige Tool. Wir wissen aus Studien, dass man Gelerntes unter Stress nicht sehr gut reproduzieren kann. In VR werde ich nicht lernen, wie sich etwas anfühlt. Aber ich kann lernen, Handlungen in eine z.B. stressige Situation einzubetten, auch wenn ich vor einem Patienten stehe, der vor Schmerzen nur noch schreit.

Lässt sich beziffern, was eine Klinik spart, wenn sie ihr Team über VR weiterbildet?

Dahm: Eine pauschale Antwort ist schwierig, weil es davon abhängt, wie VR-Technologien eingesetzt werden. Wenn es um ein Simulationstraining geht, lässt sich das gut gegenrechnen. Normalerweise fallen personelle Ressourcen (Ärzte, Pfleger, Schauspieler für Patienten) sowie kostenaufwändiges Material (Übungspuppen) an und ich muss alle Beteiligten an einem bestimmten Tag in einem Simulationszentrum zusammenbringen. Mit dem gleichen finanziellen Aufwand kann ich mir langfristig einsetzbare mobile VR-Simulationstrainings inkl. Hardware anschaffen und damit Teams sehr flexibel trainieren.

Ockenga: Ja, so kann man Kollegen einfach fragen „Hast du morgen eine halbe Stunde Zeit?“, setzt die Brillen auf und startet das Training. Schluss­endlich bleibt die Überlegung, wie sich die VR-Trainings in die gesamte Qualifizierung des Personals mit einbinden lassen.

Fokus auf immersive Technologien in der Medizin

Die StellDirVor GmbH wurde 2020 u.a. von Theda Ockenga und Petra Dahm gegründet. Das Unternehmen versteht sich als unabhängige Beratungs-, Vertriebs- und Entwicklungsgesellschaft für immersive Technologien im Gesundheitswesen, der Fokus liegt auf dem Wissens- und Prozessmanagement. Das achtköpfige Team arbeitet interdisziplinär und umfasst z.B. auch einen Arzt sowie Experten für Digitale Prozesse, Change Management, Qualifizierung und IoT.

Eine Ihrer Anwendungen erlaubt Prozessdokumentationen in Augmented Reality. Wie lässt sich das einsetzen?

Dahm: Die Möglichkeiten sind vielfältig. Wir haben festgestellt, dass Prozessmanagement und -dokumentation im Gesundheitswesen vielfach noch nicht digitalisiert sind. Hier setzen wir auf eine AR-unterstützte App, die in der Lage ist, Prozesse ganz einfach und sprachunabhängig in Bildern bzw. Videos zu erfassen und gewissermaßen sofort dem gesamten Team zugänglich zu machen. Mittels AR-Elementen können zusätzliche Informationen bzw. Navigationselemente integriert werden. Das funktioniert über ein Tablet oder sogar das eigene Smartphone und eignet sich so beispielsweise auch für die Hausarztpraxis oder MVZ. Auch wenn es darum geht, neue Mitarbeiter einzuarbeiten, sich schneller zurechtzufinden oder Geräte korrekt zu bedienen. 

Mit wie vielen Einrichtungen kooperieren Sie bereits?

Ockenga: Wir kooperieren bereits mit über 25 Einrichtungen, von Kliniken über Bildungseinrichtungen bis hin zu Medizintechnikunternehmen. Unser Fokus ist der Markt in Deutschland, Österreich und der Schweiz, wobei wir auch immer mehr in anderen EU-Ländern unterwegs sind. 

Haben Sie den Eindruck, dass in Deutschland ein Markt für Medizin-Fortbildungen in VR entsteht?

Dahm: Wir gehören sicherlich zu den Pionieren. Der Markt entsteht aber allein schon aus der Demografie und dem Fachkräftemangel heraus. Gerade im Klinikbereich gibt es viele Menschen, die Arbeiten ausführen müssen, für die sie über- oder unterqualifiziert sind. Mit den Schulungen lässt sich das vorhandene Team besser einsetzen. In den USA oder Asien sind schon deutlich mehr VR-Anwendungen in der Praxis angekommen, weil die Innovationsaffinität höher ist. Ich glaube, wir müssen da einfach ein bisschen mutiger werden. Es ist ein deutsches Phänomen, dass wir uns Dinge gerne länger anschauen und erst 100 % sicher sein wollen. Es wäre gut, sie in kleinen Schritten auszuprobieren, bevor es dann um eine zu 150 % umfangreiche, allumfassende Lösung geht.

Quelle: Medical-Tribune-Interview