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Einheitlichere Nutzenbewertung in Europa – was steckt hinter Health Technology Assessments?

Autor: Prof. Dr. Lutz Heinemann, Dr. Andreas Thomas, Jan Laufenberg

Ziel ist es, Medizinprodukte in Europa einheitlich zu regulieren. Doch noch bleibt es bei nationalen HTA-Verfahren. 
Ziel ist es, Medizinprodukte in Europa einheitlich zu regulieren. Doch noch bleibt es bei nationalen HTA-Verfahren. © iStock/AlexLMX
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Die Umsetzung der EU-Medizinprodukteverordnung ist aufgrund der Coronapandemie um ein Jahr verschoben – bis zum 26. Mai 2021 ist dennoch viel zu tun. Benannte Stellen zur Vergabe von CE-Markierungen sind überlastet. Und ob es eine Vereinheitlichung der Verfahren zur Nutzenbewertung von Medizinprodukten in Europa geben wird, ist unklar. Wie lässt sich dies mit dem deutschen System in Einklang bringen? Ein Überblick über die aktuelle Lage.

Medizinprodukte, die in Europa auf den Markt kommen, müssen eine CE-Markierung haben. Eine erhebliche Verschärfung der Vorgaben für Medizinprodukte wurde in der „Medical Device Regulation“ (MDR) eingeführt – dieser Prozess war bereits gestartet worden, rückte jedoch aufgrund einiger Skandale ins öffentliche Interesse. Nun soll es z.B. höhere Anforderungen an die Evidenz geben sowie Änderungen der Art, wie die von Bewertungen wirtschaftlich abhängigen „Benannten Stellen“ mit den Herstellern bei der Erteilung der CE-Markierung interagieren. Auch die Intransparenz des gesamten Verfahrens (= kein Einblick in wesentliche Inhalte der Zulassung) soll angegangen werden.

Bei Medizinprodukten wird eine CE-Markierung nicht aufgrund einer Zulassungsprozedur vergeben, wie dies bei Arzneimitteln der Fall ist. Dafür ist die EMA (European Medicines Agency) zuständig. Hinzu kommt, dass eine CE-Markierung noch nichts darüber aussagt, ob in einem gegebenen EU-Land die Kosten dafür von den Krankenversicherungen übernommen werden. In Deutschland muss dafür eine Nutzenbewertung erfolgen, diese kann im Sinne eines Health Technology Assessments (HTA) geschehen.

Nun werden also drei bislang existierende EU-Richtlinien (Directives) durch zwei Verordnungen (Regulations) ersetzt, die sich auf Medizinprodukte (Medical Device Regulation; MDR) und In-vitro-Diagnostika (IVD) beziehen. Eigentlich sollte die MDR im Mai diesen Jahres verbindlich werden, bedingt durch die Coronakrise wurde dieser Termin um ein Jahr verschoben. Neu eingeführt wird eine „Koordinierungsgruppe Medizinprodukte“ (MDCG), die sich aus Vertretern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Diese Koordinierungsgruppe soll die Arbeit der Benannten Stellen prüfen und vereinheitlichen. Die MDCG soll die CE-Kennzeichnungen neuartiger Hochrisiko-Medizinprodukte zukünftig durch ein Konsultationsverfahren überprüfen (Scrutiny Procedure). Auch sollen die Expertengruppen der MDCG gemeinsame Spezifikationen vorbereiten, um so europaweit einheitliche, produktspezifische Bewertungskriterien vorzugeben.

Unangetastet bleiben der rechtliche Status und das Geschäftsmodell der Benannten Stellen, die weiterhin wirtschaftlich von der Kooperation ihrer Medizintechnikkunden abhängig sind. Da ein Hersteller sich für die CE-Markierung eine Benannte Stelle in Europa aussuchen kann, entsteht bei diesen ein Druck, die CE-Zertifizierung möglichst reibungslos und niedrigschwellig zu gestalten. Eine zentrale Behörde – vergleichbar der EMA – für den Medizinprodukte-Markt aufzubauen, ließ sich politisch nicht durchsetzen.

Keine öffentliche Datenbank für Medizinprodukte

Bei Medikamenten gibt es eine „Rote Liste”. Gleiches existiert nicht für andere übliche Medizinprodukte. Auch ist es derzeit regelhaft schwierig herauszufinden, wann, in welcher Risikoklasse, für welche Zweckbestimmung, durch wen oder auf welcher Datengrundlage ein bestimmtes Medizinprodukt in den europäischen Markt gelangt ist. Zwar wurde eine „Europäische Datenbank für Medizinprodukte” (Eudamed) bereits seit 2011 aufgebaut, diese Datenbank ist jedoch nur für Behörden zugänglich. Benannte Stellen, Hersteller oder die Öffentlichkeit haben keinen Zugriff. Weil Eudamed unter Verschluss blieb, war es bislang nicht möglich, neue Medizinprodukte systematisch zu sichten und für HTA-Nutzenbewertungen auszuwählen. Durch die nun beschlossene Öffnung der Eudamed-Datenbank wird zukünftig eine Zusammenfassung der klinischen Bewertung zu jedem neuen Medizinprodukt öffentlich verfügbar sein. Ärzte und Patienten können dann selbst entscheiden, ob ihnen die Datengrundlage für ein neues Medizinprodukt ausreichend erscheint oder nicht. Es bleibt abzuwarten, ob die veröffentlichten Informationen hinreichend detailliert, neutral und vollständig sein werden. Hier betreten sowohl Hersteller als auch Benannte Stellen Neuland. In Zukunft müssen klinische Prüfungen zu neuen, noch nicht zertifizierten Medizinprodukten zentral registriert werden. Hier orientiert sich die EU-Kommission an dem bereits für Arzneimittel etablierten öffentlichen Studienregister EudraCT („European Union Drug Regulating Authorities Clinical Trials”). Um das Zurückhalten unerwünschter Studienergebnisse zu vermeiden, schreibt die MDR die Veröffentlichung eines Studienberichts regelhaft binnen eines Jahres nach Studienabschluss vor.

Zusatznutzenbewertung auf nationaler Ebene

Aus Patientensicht stellt die europäische Neuregulierung durch die MDR eine deutliche Verbesserung dar. Denn regulatorische Kriterien wie Sicherheit und Leistungsfähigkeit bleiben die zentralen Punkte für die CE-Kennzeichnung. Zur Bewertung der klinischen Notwendigkeit (Zusatznutzen) und Wirtschaftlichkeit im Vergleich zu bereits etablierten Medizinprodukten haben eine Reihe von europäischen Staaten einen nationalen HTA-Prozess etabliert; dieser berücksichtigt nationale Besonderheiten der Gesundheitssysteme. In Deutschland wird diese Aufgabe durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und durch das Institut für Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erfüllt. Dabei bewertet der G-BA nicht einzelne Medizinprodukte, sondern Behandlungsmethoden, deren Anwendung maßgeblich auf einem (oder mehreren) Medizinprodukt/en beruhen kann. Da der G-BA mit seinen Richtlinien über die Erstattungsfähigkeit von Methoden im deutschen System der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) entscheidet, sind die Ergebnisse solcher Bewertungen für die Hersteller von Medizinprodukten ausgesprochen relevant. Zusätzlich muss in Deutschland nach zwei zentralen Bereichen des Gesundheitssystems unterschieden werden: der ambulanten und der stationären Leistungserbringung. Wenn ein Medizinprodukt Anwendung im ambulanten Markt findet, greift das sogenannte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Dies legt grundsätzlich fest, dass eine Kostenerstattung für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im ambulanten Bereich nur dann zulasten der GKV erfolgen kann, wenn diese durch die Organe der Selbstverwaltung des Gesundheitssystems geprüft sind. Im Falle eines Produktes, das den Kriterien eines Hilfsmittels entspricht, kann es dann durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SV) gelistet werden. Beim stationären Markt ist dies anders, hier gibt es durch die „Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt“ einen innovationsfreundlicheren Zugang für Medizinprodukte. Deren Vergütung ist dann bis zum Zeitpunkt des expliziten Verbots möglich. Betrachtet man nun Möglichkeiten, die zu einer Nutzenbewertung führen können, gibt es im Prinzip zwei Wege:
  • Auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Abs. 2 Satz 1 wird vom G-BA eine Methode bewertet – entweder mit der Idee, diese Methode in der ambulanten Versorgung neu einzuführen (§ 135 SGB V), oder mit der Idee, diese Methode aus der stationären Versorgung zu entfernen (§ 137 c SGB V). Dies erfolgt, wenn es sich herausstellt, dass der Nutzen der Methode nicht ausreichend belegbar ist und/oder sie schädlich oder unwirksam ist.
  • Der zweite Weg ist obligatorisch: Vom G-BA müssen diejenigen Medizinprodukte auf Antrag eines Krankenhauses bewertet werden (§ 137 h SGB V), die Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) sind, besonders invasiv sind sowie drittens im Krankenhaus relevante Mehrkosten verursachen, die nicht über Fallpauschalen und Zusatzentgelte ausreichend vergütet werden.

Aktuell weniger Bewertungen nötig als zunächst erwartet

Beide Wege haben nur für einen geringen Anteil aller Medizinprodukte eine Bedeutung: In den ersten zwei Jahren der obligatorischen Bewertung waren lediglich zwei Methoden betroffen. Und das, obwohl der Gesetzgeber initial damit gerechnet hatte, dass bis zu 20 Medizinproduktemethoden zu bewerten wären. Die überwältigende Mehrheit aller Medizinprodukte wird im GKV-System – zumindest im stationären Leistungsbereich – weiterhin ohne Nutzenbewertung erstattet. Dies kann aus Patientensicht vorteilhaft sein, bedeutet aber, dass gewisse Risiken akzeptiert werden. Auch die Marktüberwachung ist ein wichtiges Thema: Diese erfolgt nicht durch die Benannten Stellen, sondern ist Sache der Länder in Deutschland. Auch wenn das BfArM Hinweise auf ernsthafte Probleme bei Medizinprodukten bekommt, kann diese Bundesbehörde nicht selber aktiv werden, sondern muss die jeweiligen Landesbehörden ansprechen. Bis dieser Prozess durchlaufen ist und konkrete Aktivitäten erfolgen, kann es eine erhebliche Zeit dauern. Während dieser Zeit sind die Patienten weiter Gefahren ausgesetzt, wie sie z.B. von Blutzuckermessgeräten mit ungenügender Messgüte ausgehen.

Nicht ausreichend Benannte Stellen

Im Zusammenhang mit einer Überprüfung von Benannten Stellen durch die EU-Kommission kam es zu einem Wegfall einer Reihe von benannten Stellen – bisher ca. 80 in Europa. Nun gibt es anscheindend einen gewissen „Stau“. Das bedeutet, dass sich Hersteller, die sich an die verbliebenen Benannten Stellen wegen einer CE-Markierung wenden, auf eine längere Wartefrist von neun Monaten und mehr einrichten müssen. Die Hoffnung ist, dass diese verbliebenen Benannten Stellen eine gute und vergleichbare Qualität bei der Bewertung aufweisen. In Deutschland wird diese Aufgabe durch die Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) kontrolliert und nicht – wie vielfach vermutet – durch das BfArM. Die Benannten Stellen dürfen die Herstellung von Medizinprodukten durch unangemeldete Prüfbesuche überwachen, wobei unklar ist, ob dies wirklich erfolgt bzw. erfolgen kann, insbesondere wenn diese im Ausland angesiedelt sind.

Wie sieht der geplante HTA- Prozess in Europa aus?

In der MDR wird als Kriterium die „Vertretbarkeit des Nutzen-Risiko-Verhältnisses“ benannt, wobei darunter „aussagekräftige, messbare und patientenrelevante klinische Ergebnisse“ verstanden werden. Das IQWiG betrachtet insbesondere den Zusatznutzen – also eine neue Therapie im Gegensatz zur etablierten Therapie – des neuen Medizinprodukts. Dafür betrachtet das IQWiG randomisierte kontrollierte Studien (RCT) als Goldstandard bei der Evaluation von Medizinprodukten. Anfang 2018 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag vorgelegt, der vorsieht, die HTA-Verfahren in den Mitgliedsstaaten zu vereinheitlichen. Motivationen dafür sind:
  • Ressourcen sowie Zeit könnten dadurch eingespart werden, da anstelle mehrerer nationaler HTA-Prozesse nur ein zentrales Bewertungsverfahren notwendig ist. Aktuell entstehen Verzögerungen beim HTA-Prozess, wenn Länder mit weniger/keiner Expertise die Entscheidungen anderer Länder abwarten und die Ergebnisse dieser Bewertung selber sichten, um somit auf Grundlage dieser Dokumente eigene Entscheidungen treffen zu können.
  • Durch einheitliche Bewertungsstandards ist es für die Hersteller einfacher, geeignete Evidenz zu generieren und aufzubereiten.
Dieser Entwurf stieß jedoch auf Kritik, weil dieses Vorgehen stark in die nationale Gesundheitspolitik eingreift. So würden Mitgliedsstaaten verpflichtet, gemeinsame HTA-Berichte zur Nutzenbewertung zu übernehmen und keine eigenen Bewertungen mehr anzustoßen. Die Ausrichtung der nationalen Vorgehensweisen ist allerdings unterschiedlich. Speziell zu Medizinprodukten sieht der Entwurf vor, dass alle neuen Produkte einer HTA-Bewertung unterzogen werden, deren CE-Kennzeichnung gemäß MDR eine MDCG-Konsultation erfordert, was auf alle Produkte höherer Risikoklassen zutrifft. Vergleicht man diese möglichen neuen EU-Kriterien mit der vorhandenen deutschen Regelung, dann will die EU-Kommission mehr Hochrisikomedizinprodukte nach HTA-Standards bewertet wissen. Die deutsche Medizinprodukteindustrie fordert, dass die Bewertung von Medizinprodukten komplett aus der geplanten EU-Regulation zu HTA gestrichen wird. Sollte die existierende deutsche Regelung durch eine europäische HTA-Regulation ergänzt oder ersetzt werden, sollte deren Fokus auf der Bewertung von neuen Medizinprodukten mit einer hohen Risikoklasse (Klasse IIb und III) liegen. Unabhängig davon, wie eine europäische Regelung im Detail ausgestaltet wird, wäre es sinnvoll, dass ein HTA in allen europäischen Ländern nach einheitlichen und klaren methodischen Standards erfolgt.

Sinnvoll, langfristig Synergien zu nutzen

In den Bereichen Marktzugang und Erstattungsfähigkeit will die EU-Kommission ähnliche Organisationsstrukturen aufbauen, damit ein Austausch und ein Lernen beider Bereiche voneinander erfolgen kann. Synergien zwischen den Ebenen von CE-Kennzeichnung und HTA-Bewertung lassen sich wohl schon erkennen. Wenn neue Hochrisiko-Medizinprodukte kommen, muss der Hersteller aussagekräftige klinische Evidenz zum Nutzen-Risiko-Verhältnis vorlegen. Idealerweise wird eine randomisierte kontrollierte klinische Studie dazu durchgeführt, bei der gegen den aktuellen Behandlungsstandard verglichen wird und die patientenrelevanten Endpunkte umfasst. Insgesamt zeigt die hier beschriebene Entwicklung, dass die EU-Kommission relevante Verbesserungen bei Medizinprodukten vorangetrieben hat, um die Probleme der CE-Kennzeichnung anzugehen. Die Bemühungen um eine europäische Harmonisierung bei den HTA-Prozessen werden in den nächsten Jahren weitere Veränderungen mit sich bringen.