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Chemikalien und Mikroplastik Heute schon Kunstfaser inhaliert?

Autor: Manuela Arand

Dieses Minikonvolut aus Mikrofasern stammt von 
einem Kleidungsstück aus Polycotton. Über Abrieb, Waschmaschine und Trockner gelangt es millionenfach in die Umwelt. Dieses Minikonvolut aus Mikrofasern stammt von einem Kleidungsstück aus Polycotton. Über Abrieb, Waschmaschine und Trockner gelangt es millionenfach in die Umwelt. © Science Photo Library/Gschmeissner, Steve
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Fast eine halbe Million neuer Chemikalien sind in den letzten 60 Jahren praktisch ohne Kontrolle ihrer Gesundheitseffekte eingeführt worden. Viele gelten heute als Umweltschadstoffe, aber selbst vermeintlich harmlose Produkte wie Haushaltsreiniger, Körpercremes und Nahrungsmittelzusätze sind potenzielle Zeitbomben.

Der Chemikalienboom begann um 1960 und wurde begleitet von einem exponenziellen Anstieg der Allergie- und Asthmaerkrankungen. Dies machen Daten aus der Schweizer Armee deutlich: 1960 litten 1–2 % der Armeeangehörigen an einer Allergie, 2010 hatte sich der Anteil mehr als verzehnfacht, berichtete Prof. Dr. Cezmi A. Akdis, Direktor des Schweizerischen Instituts für Allergie- und Asthmaforschung Davos. Schadstoffe können Barrieren durchdringen und sie permeabler machen für Allergene, Toxine und Mikroorganismen. 

Detergenzien bleiben am Geschirr haften

Dabei beeinflussen sich die verschiedenen Barrieren im Körper gegenseitig: Beginnt das Darmepithel zu lecken, leidet die Lungenmukosa und die pulmonale Inflammation nimmt zu. Umgekehrt funktioniert das Wechselspiel genauso.  

Als Beispiel für weit verbreitete Chemikalien mit zum Teil unklaren Effekten auf die Gesundheit nannte der Immunologe Detergenzien, die Reinigungsmitteln für Profispülmaschinen zugesetzt werden. Sie sollen schnelle Waschgänge von ein, zwei Minuten Dauer bei über 80 °C und hohem Druck ermöglichen. Toxisch wirken vor allem die in den letzten 20 Sekunden zugeführten Klarspüler bzw. das darin enthaltene Alkohol­etoxylat. „Alkoholetoxylat ist eine der giftigsten Substanzen überhaupt – es bleibt toxisch selbst bei einer Verdünnung von 1:20.000“, erläuterte Prof. Akdis. Klarspüler persistieren auf Geschirr und Gläsern und sorgen für den gewünschten Glanz. Sie lassen sich später aber auch in den servierten Gerichten und Getränken nachweisen. Solche Reinigungsmittel werden überall dort verwendet, wo große Geschirrmengen schnell gereinigt werden müssen – in Schulen, Kantinen, Krankenhäusern …

Emulgatoren dicken auch den Schleimhautfilm ein

Ein weiteres Beispiel sind Emulgatoren und Konservierungsmittel in Nahrungsmitteln. Ihnen ist zu verdanken, dass Saucen cremig bleiben und Abgepacktes monatelang haltbar ist. „Lässt sich das erreichen, ohne humane Zellen zu schädigen? Nein, bisher jedenfalls nicht“, so Prof. Akdis. Emulgatoren dicken nicht nur Saucen an, sondern auch den Flüssigkeitsfilm auf Schleimhäuten. Das stört den Austausch zwischen Epithel, Immunzellen und Mikrobiom. Die Kommensalen werden in der verdickten Schleimhautfilm gefangen, das Mikrobiom büßt Diversität ein. „Wenn Ihr Asthmapatient eine gestörte Mukosabarriere im Intestinum hat, wird die Asthmakontrolle schlechter“, warnte Prof. Akdis. 

Bei vielen anderen Erkrankungen sieht er ähnliche Zusammenhänge zwischen Exposition, epithelialen Barrierestörungen und mikrobieller Dysbiose einerseits, Krankheitsstart und ungünstigem Verlauf andererseits – so bei Neurodermitis und Heuschnupfen, eosinophiler Ösophagitis, M. Crohn und Colitis ulcerosa, aber auch Autoimmunerkrankungen (von Diabetes bis Multiple Sklerose) und neuropsychiatrischen Krankheiten. 

Erst in den letzten Jahren ist die inhalative Exposition gegenüber Mikroplastik ins Bewusstsein gerückt. Lange galt sie vor allem als Problem von Menschen, die beruflichen Umgang mit Asbest und Silikaten haben, tatsächlich kann ihr aber praktisch niemand entgehen. Mikroplastik entsteht, wenn größere Kunststoffgegenstände oder -kleidungsstücke zerfallen. 

Hohe Belastung in Innenräumen 

Es wird aber auch absichtlich synthetisiert, z.B. Nanopartikel für Kosmetikprodukte. „Mikroplastik finden Sie überall, auf dem Gipfel des Himalaya genauso wie in der Tiefsee“, betonte Prof. Dr. Barbro Melgert, Universität Groningen. In Innenräumen ist die Konzentration um ein Vielfaches höher als draußen, meist handelt es sich dabei um Partikel aus Polyester, Nylon und Polypropylen von Kleidung und Haushaltstextilien. Etwa 30 % des Staubs bestehen aus synthetischen Fasern. 

Dass Mikroplastik den Weg über die Lunge in den Organismus schafft, konnten Wissenschaftler kürzlich zeigen. Im Blut ihrer Probanden schwammen pro Milliliter im Schnitt knapp 2 µg Polyester, Polyethylen und Polystyrene. „Der einzige Weg, auf dem diese Stoffe dorthin gelangen können, ist durch lückenhafte Epithelbarrieren“, so Prof. Melgert. 

Auch in der Lunge finden sich derartige Partikel. Es liegt daher nahe, dass zumindest ein Teil des Plastiks im Blut mit der Atemluft in den Körper gelangt ist. 

In Versuchen mit Lungen-Organoiden, die Atemwege und Alveolen nachbilden, untersuchte das Team der niederländischen Toxikologin, was textile Mikrofasern bewirken. Nichts Gutes: Speziell Atemwegs­epithel-Organoide verkümmerten, wenn sie Plastik, vor allem Nylon, ausgesetzt waren. Dabei scheint es sich nicht um einen direkten toxischen Effekt zu handeln, vielmehr stört Nylon die Entwicklung der Organoide und wahrscheinlich auch Reparaturprozesse in geschädigten Lungen. „Gute Nachrichten für Erwachsene, aber schlechte für Schwangere, Kinder und Lungenkranke“, kommentierte Prof. Melgert. Für den Moment riet sie, jeder solle helfen, die Exposition zu reduzieren, d.h., lüften, staubsaugen und den Plastikverbrauch minimieren. 

Kongressbericht: ERS (European Respiratory Society) International Congress 2022