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Kardiovaskuläres Risiko Lipidsenkung für Senioren?

Autor: Manuela Arand

Am Ende entscheidet die Präferenz des Patienten darüber, ob er für einen möglichen Nutzen noch bereit ist, ein (weiteres) Medikament einzunehmen. Am Ende entscheidet die Präferenz des Patienten darüber, ob er für einen möglichen Nutzen noch bereit ist, ein (weiteres) Medikament einzunehmen. © andranik123 – stock.adobe.com
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Sollte man einem koronargesunden 70-Jährigen ein Statin verordnen, nur weil sein LDL bei 170 mg/dl liegt? Der neue SCORE2-OP erleichtert die Entscheidung.

Bei älteren Menschen kommt es besonders darauf an, eine Übertherapie zu vermeiden, ohne ihnen indizierte Primär- und Sekundärprävention vorzuenthalten, betonte Prof. Dr. Konstantinos Toutouzas von der Universität Athen. Dazu gehört auch, die Therapie weder vorschnell abzubrechen noch sie fortzuführen, wenn die Nutzen-Risiko-Balance ins Negative rutscht. Im Falle der LDL-Senkung sind neurokognitive Probleme zu berücksichtigen, die unter Statinen, nicht aber unter PCSK9-Inhibitoren beobachtet worden sind. Dagegen steht der kardiovaskuläre Benefit, der bei den meisten Patienten deutlich stärker ins Gewicht fallen dürfte, so Prof. Toutouzas.

Hochrisikopatienten benötigen der ESC zufolge ein aktives Management aller Risikofaktoren. Das betrifft etwa Menschen mit etablierter kardiovaskulärer Erkrankung, Diabetes oder fortgeschrittener Niereninsuffizienz. Senioren fallen fast immer in die Hochrisikokategorie – allein deshalb, weil fortgeschrittenes Alter den Risikoscore drastisch erhöht. Wer älter als 70 Jahre ist, hat praktisch keine Chance, dem roten Ende der Risikoskala zu entgehen.

Klassische Faktoren wie der Cholesterinspiegel fallen da kaum noch ins Gewicht. Prof. Toutouzas bezweifelt allerdings, dass diese Rechnung stimmt: Der Nutzen des Risikomanagements werde bei Älteren systematisch überschätzt. Grund dafür seien ihre geringere Lebenserwartung, das erhöhte Risiko für andere, nicht-kardiovaskuläre Todesursachen sowie eine schlechtere Verträglichkeit von Arzneimitteln, die sich u.a. in einer höheren Rate an Nebenwirkungen und einer stärkeren Einschränkung der Lebensqualität äußert.

Mit SCORE2-OP (Older People), den es auch als Online-Rechner gibt, versucht die ESC, diese Schwäche zu beseitigen. Der Kalkulator gilt für über 70-Jährige und kommt zu einem deutlich moderateren Risiko, als wenn man SCORE2 einfach fortschreibt. Eine weitere Neuerung ist, dass SCORE2 und SCORE2-OP nun das 10-Jahresrisiko für tödliche und nicht-tödliche kardiovaskuläre Komplikationen darstellen und nicht mehr nur das kardiovaskuläre Sterberisiko, erklärte Prof. Dr. François Dievart, Clinique Villette Dunkerque. Außerdem gelten je nach Alter unterschiedliche Risikoschwellen. Ein unter 50-Jähriger zählt bereits bei einem absoluten Risiko von 7,5 % zur Höchstrisikogruppe, ein über 70-Jähriger erst ab 15 %.

Im Einzelfall ist natürlich immer zu berücksichtigen, welche modifizierbaren Risikofaktoren der Patient sonst noch mitbringt. Die neuen Scores berücksichtigen auch diesen Aspekt und helfen zu ermitteln, welche Intervention im Einzelfall den größten Nutzen in puncto Lebenszeit ohne kardiovaskuläre Erkrankung bringt und wann eine Therapie nur noch marginal darauf einwirkt.

Für die Therapieentscheidung sollte dies wichtiger sein als das 10-Jahresrisiko des Individuums, meinte Prof. Dievart. Die ESC-Leitlinie empfiehlt die Lipidsenkung auch für ältere Menschen, gibt aber ab 70 Jahren nur noch eine „Kann man erwägen“-Empfehlung** für die Primärprävention ab. Dabei wird kein harter Zielwert gesetzt, das übliche Target von unter 100 mg/dl (2,6 mmol/l) aber als „vernünftig“ bezeichnet. Am Ende entscheidet die Präferenz des Patienten darüber, ob er für einen möglichen Nutzen noch bereit ist, ein (weiteres) Medikament einzunehmen.

** Empfehlungsstärke IIb, d.h. Evidenz wird als nicht völlig überzeugend eingestuft

Quelle: European Society of Cardiology Congress 2022