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Vergessliche Mütter Muttersein ist ein kognitiver Kraftakt

Autor: Alexandra Simbrich

Die Gehirnplastizität werdender Eltern verändert sich, die "Stilldemenz" scheint aber eher ein gesellschaftliches Narrativ zu sein. (Agenturfoto) Die Gehirnplastizität werdender Eltern verändert sich, die "Stilldemenz" scheint aber eher ein gesellschaftliches Narrativ zu sein. (Agenturfoto) © Jadon Bester/peopleimages.com – stock.adobe.com
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„Mama-Gehirn“, „Mommy Brain“, „Momnesie“ oder „Stilldemenz“: Hinter diesen Begriffen steckt die weitverbreitete und Jahrzehnte alte Annahme, dass die Zeit vor und nach der Geburt eines Kindes mit Gedächtnislücken oder gar einem Rückgang der kognitiven Fähigkeiten der Mutter verbunden ist.

Die Basis dieser Hypothese scheint allerdings primär gesellschaftlicher Natur zu sein, schreiben Dr. Clare McCormack­ vom Langone Medical Center der New York University und Kolleginnen.

Bis zu 80 % der Schwangeren berichten über einen gewissen subjektiven Gedächtnisverlust. Frisch gebackene Mütter beschreiben nach der Geburt Ähnliches. Eine wissenschaftliche Basis für dieses Vergesslichkeitsphänomen fehlt aber bislang. Natürlich müssen kognitive Einbußen bei Patienten immer ernst genommen werden. Nur scheint es vielmehr das unausweichliche Narrativ des Mama-Gehirns, das zu diesen subjektiven Berichten beiträgt: Während die Aufmerksamkeit der Schwangeren und Forscher auf eine potenziell verringerte kognitive Funktion gelenkt wird, ignorieren sie gleichzeitig Fähigkeiten, die während dieses Lebensabschnitts hinzugewonnen werden. 

Keine Unterschiede in empirischen Studien 

Den subjektiven Berichten der Mütter über ihren Gedächtnisverlust stehen empirische Studien gegenüber, in denen sich das Gedächtnis von Schwangeren bzw. Müttern nur selten und vor allem nicht signifikant von dem von kinderlosen Frauen unterschied. Hierfür gibt es nach Ansicht der Autorinnen verschiedene Gründe. In erster Linie spielt die Laborumgebung eine Rolle. Objektive Gedächtnistests werden bei nur minimalen Ablenkungen durch die Umgebung durchgeführt – das entspricht kaum der Elternrealität.

Ein zweiter Grund liegt in sozialen Erwartungen und Bewertungen, die alltäglicher Vergesslichkeit mehr Bedeutung beimessen: Verlegt die Frau den Schlüssel, wird es auf die Stilldemenz geschoben, die damit schnell zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Und auch bei Forschenden, die sich mit diesem Thema beschäftigen, lässt sich nicht ausschließen, dass sie entsprechende Daten durch die Mommy-Brain-Brille sehen – sie wurden ebenfalls gesellschaftlich ­geprägt. 

Gleichzeitig ließ sich zeigen, dass sich die strukturelle Plastizität in Gehirnen von Eltern verändert. Oft verringert sich das Volumen der grauen Substanz in präfrontalen Regionen und dem Hippocampus. Demgegenüber stehen ein generell besseres Langzeitgedächtnis, eine bessere Lernleistung bei Schwangeren sowie verbesserte kognitive und emotionale Fähigkeiten bei Eltern insgesamt. 

Die morphologischen Veränderungen bei werdenden Müttern ähneln in ihrem Ausmaß denen während der Adoleszenz, woraus sich die Bezeichnung Matreszenz ableitet. Hormonell bedingte Veränderungen betreffen die Bereiche Aufmerksamkeit, Motivation, Kognition und Verhalten. Schließlich verschiebt sich in dieser Lebensphase der Fokus auf die Bedürfnisse und das Überleben des Nachwuchses.

Dass die Stilldemenz weiterhin ein Thema ist, hat nach Ansicht der Kolleginnen historische Gründe. Lange wurden Betreuungsarbeit und Fähigkeiten von Müttern unterbewertet. Auch heute noch verkennen viele die mentale Belastung durch die Mutterschaft. Das Mommy Brain könnte genauso gut als Coping-Strategie angesehen werden, die einen „Ausweg“ aus der Vorstellung der perfekten, sich kümmernden Mutter schafft. Das Narrativ müsse insgesamt neu gedacht werden, um die Anpassung des Gehirns an die bemerkenswerten Leistungen von Eltern anzuerkennen, fordern die Autorinnen.

Quelle: McCormack C et al. JAMA Neurol 2023; DOI: 10.1001/jamaneurol.2022.5180