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MS-Phänotypen Nur eine Frage der neurologischen Reserve

Autor: Dr. Andrea Wülker

Sind die zerebralen Kompensationsme­chanismen erschöpft, wird der MS-Verlauf progredient. Sind die zerebralen Kompensationsme­chanismen erschöpft, wird der MS-Verlauf progredient. © iStock/eyecrave
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Bisher wird klinisch zwischen der schubförmigen und der progredienten Multiplen Sklerose unterschieden. Aber ist wirklich bewiesen, dass es sich dabei um unterschiedliche Krankheitsformen handelt? Oder schreitet die MS kontinuierlich von einer schubförmigen zu einer progredienten Form fort?

Zu den biologischen Grundlagen der Multiplen Sklerose gab es in den letzten Jahren neue Erkenntnisse. Damit wurde klar, dass keine genetischen oder immunologischen Unterschiede zwischen der schubförmigen und den progredienten MS-Formen nachweisbar sind, schreiben Dr. Timothy Vollmer von der Neurologischen Abteilung der University of Colorado, Aurora, und Kollegen. Die berichteten pathologischen und radiologischen Differenzen zwischen der primär und sekundär progredienten MS sowie zwischen der progredienten und schubförmigen Erkrankung sind ihrer Auffassung nach eher quantitativer als qualitativer Art. Das stützte die Sichtweise, dass es sich bei den MS-Subtypen nicht um unterschiedliche biologische Entitäten handelt, sondern um Teile eines einzigen Krankheitsspektrums.

Damit stellt sich jedoch die Frage, was den progredienten Verlauf auslöst? Als Erklärungsmodell stellen die Ärzte das Konzept der neurologischen Reserve vor, das auf physiologischen Vorgängen fußt.

80 % der Hirnläsionen bleiben klinisch stumm

Bei den meisten Menschen setzt nach dem 20. Lebensjahr eine Hirnatrophie aufgrund des Untergangs von Neuronen ein – dennoch können sie aufgrund ihrer zerebralen und kognitiven Reserve (s. Kasten) bis ins hohe Alter eine normale neurologische Funktion aufrechterhalten. 

Hirnvolumen und intellektuelle Fähigkeiten zählen

Das Konzept der zerebralen Reserve geht davon aus, dass das maximale Hirnvolumen, das im Lauf des Lebens erreicht wird, vor kognitivem Abbau schützt. Zu Störungen kommt es erst, wenn eine kritische Schwelle unterschritten wird. Unter kognitiver Reserve versteht man intellektuelle Fähigkeiten sowie Aktivitäten und Verhaltensweisen, die das Gehirn aktiv fordern – sie schützen ebenfalls vor Defiziten im Denken. Diese Konzepte greifen auch bei der MS: So kann eine zerebrale Reserve MS-Patienten bis zu einem gewissen Grad vor einer Abnahme kognitiver Fähigkeiten bewahren. Die Autoren schlagen vor, im Zusammenhang mit MS den Begriff neurologische Reserve zu benutzen. Er bezeichnet nicht nur die Denkleistung, sondern beinhaltet zudem die meisten anderen neurologischen Funktionen, die bei der MS betroffen sind – einschließlich der motorischen und sensorischen Funktion.

Die MS beginnt meist bei jungen Erwachsenen, seltener bei Jugendlichen. Aus Studien weiß man, dass ca. 80 % der inflammatorischen Läsionen im ZNS klinisch stumm sind, aber eine Plaquebildung verursachen. Das Volumen der Läsionen geht mit einer beschleunigten Hirnatrophie einher, die den Verlust an Neuronen widerspiegelt. Dieses Phänomen wird schon im Stadium des klinisch isolierten Syndroms beobachtet. Das Muster einer subklinischen Progression neurologischer Schäden noch vor der Manifestation klinischer Symptome finde man auch bei anderen ZNS-Erkrankungen, etwa beim Morbus Alzheimer, und ebenso im normalen Alterungsprozess, schreiben die Autoren. Selbstverständlich können auch die MS-Patienten bis zu einem gewissen Grad krankheitsbedingte zerebrale Schäden kompensieren. Ist diese Reserve aufgrund der MS-bedingten Inflammation schließlich erschöpft, beginnt die Krankheit progredient zu verlaufen. Zusätzlich machen sich die normalen Alterungsprozesse des Gehirns bemerkbar. Lässt dann noch die neurologische Resilienz, also die Fähigkeit des Gehirns, nach einer Schädigung Funktionen wiederzuerlangen, nach, gelingt es Patienten mit progressivem Verlauf im Vergleich zu solchen mit schubförmiger MS schlechter, durch Bewegungs­übungen oder andere Interventionen Funktionen zurückzugewinnen, erklären Dr. Vollmer und seine Kollegen.

Gesunder Lebensstil zum Schutz kognitiver Reserven

Sie sind daher überzeugt davon, dass die Multiple Sklerose als Kontinuum von einer schubförmigen zu einer progredienten Erkrankung fortschreitet. Dass manche Patienten früher eine Krankheitsprogression entwickeln als andere, erklären sie mit einer unterschiedlichen Ausprägung der individuellen neurologischen Reserve. Zu deren Schutz empfehlen die Ärzte Strategien wie gesunde Ernährung und aktiven Lebensstil, was gleichzeitig die Behandlung möglicher Komorbiditäten unterstützt. Zudem trage eine frühe Intervention mit hocheffektiven krankheitsmodifizierenden Medikamenten dazu bei, dass die Patienten einen gesunden, aktiven Lebensstil einnehmen und ihre neurologische Funktion verbessern können.

Quelle: Vollmer TL et al. Neurol Clin Pract 2021; 11: 342-351; DOI: 10.1212/CPJ.0000000000001045