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Klinefelter-Syndrom Trotz 47,XXY zum Mann reifen

Autor: Dr. Anne Benckendorff

Klinefelter-Patienten haben oft große Hände. Klinefelter-Patienten haben oft große Hände. © Science Photo Library/ Biophoto Associates
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Obwohl einer von 600 Jungen den Chromosomensatz 47,XXY in sich trägt, wird das Klinefelter-Syndrom in Kindheit und Jugend oft nicht erkannt. Doch je früher die Diagnose steht, desto besser kann man den Betroffenen helfen. Dabei kommt nicht nur Testosteron zum Einsatz.

Das Ausmaß der klinischen Manifestationen beim Klinefelter-Syndrom variiert, und nicht alle Betroffenen entwickeln das volle Spektrum. Letzteres erschwert die Diagnose, ist aber auch eine wichtige Botschaft für besorgte Eltern und sollte deshalb bereits beim Überbringen der Diagnose deutlich gemacht werden, schreiben der Endokrinologe Professor Dr. Gary Butler, University College London Hospitals NHS Foundation Trust, und Kollegen. Wichtig ist ein früher Therapiebeginn auf den Gebieten, auf denen Bedarf besteht – und am wichtigsten ein liebevolles und unterstützendes Familienumfeld.

Jungen mit Klinefelter-Syndrom sind bei Geburt genauso groß und schwer wie Jungen mit dem regulären 47,XY-Chromosomensatz. Typischerweise wachsen sie in der frühen und mittleren Kindheit schneller, während der Schub in der Pubertät normal ausfällt. Erwachsene Männer mit Klinefelter-Syndrom sind meist größer als aufgrund der Größe ihrer Eltern zu erwarten wäre. Das gefürchtete extreme Längenwachstum ist jedoch selten. Weil es sich schon im Grundschulalter zeigt, lässt sich gut mit i.m. Testosteroninjektionen entgegenwirken.

Testosteronmangel prägt die körperliche Entwicklung

Der Hypogonadismus kann bereits während der Embryonalentwicklung beginnen. Während der Mini-Pubertät in den ersten Lebensmonaten fällt der Anstieg des Testosterons geringer aus, Gonadotropine werden verstärkt ausgeschüttet. Die Pubertät startet altersgerecht mit zunächst regulärer Vergrößerung des Hodens und Testosteronwerten entsprechend dem Altersdurchschnitt. Jedoch fällt im weiteren Verlauf der Pubertät der nächtliche Anstieg des Testosterons geringer aus und die vollständige Entwicklung zum Mann stockt. Viele Betroffene entwickeln eine Adipositas oder setzen verstärkt Fett am Bauch an; oftmals ist der Muskeltonus herabgesetzt, die Kraft dadurch vermindert. Der Anteil der Klinefelter-Betroffenen mit Gynäkomastie unterscheidet sich zunächst nicht von der Allgemeinbevölkerung, allerdings entwickelt sie sich verglichen mit der in der Pubertät physiologischen männlichen Brustvergrößerung seltener wieder zurück.

Angesichts der hohen Rate an Unfruchtbarkeit unter Männern mit Klinefelter-Syndrom muss dieses Thema im Verlauf der Adoleszenz altersgerecht besprochen und ggf. eine psychologische Begleitung angeboten werden, empfehlen die Autoren. Auf Verhütung dürfen sexuell aktive Patienten nicht verzichten – selbst wenn die meisten von ihnen unfruchtbar sind. Für einen späteren Kinderwunsch kann eine operative Spermienasservierung erwogen werden, wobei unklar ist, wann der optimale Zeitpunkt dafür ist.

Zwei Formen des Testosteronmangels

Beim Klinefelter-Syndrom wird zwischen einem biochemischen Hypogonadismus (geringer Testosteronspiegel während der Mini-Pubertät bzw. der späten Pubertät) und einem klinischen Hypogonadismus (Mikropenis, langsame Virilisierung/verzögertes Fortschreiten der Pubertät, Gynäkomastie, hoher BMI/Adipositas, evtl. langsame Entwicklung der Muskulatur und Lethargie) unterschieden.

Etwa zwei Drittel der Jungen mit Klinefelter-Syndrom benötigen therapeutische Unterstützung hinsichtlich Sprache und/oder einer verzögerten Entwicklung. Wichtig ist nach Aussage der Autoren insbesondere, dass die Therapie frühzeitig beginnt. Da keine Klinefelter-spezifischen Besonderheiten zu beachten sind, sind seitens der Therapeuten auch keine Spezialkenntnisse erforderlich. Die Mehrheit der Betroffenen hat Schwierigkeiten mit der rezeptiven und expressiven Sprache, was zu Frustration und Unfähigkeit führen kann, sich auszudrücken.

Kognitive, soziale und emotionale Fähigkeiten brauchen länger, um sich zu entwickeln und können dauerhaft unterentwickelt bleiben. Das kann Probleme mit Gleichaltrigen und in der Schule nach sich ziehen. An dieser Stelle spielen die Unterstützung durch die Eltern sowie professionelle Hilfen eine zentrale Rolle. Wichtig ist auch die psychologische Begleitung. Sie fördert das Wohlbefinden und die Gesundheit langfristig und beugt Unsicherheiten, Missverständnissen und in der Folge schlechter Adhärenz in Bezug auf therapeutische Maßnahmen vor.

Nach der Schulzeit auf individuelle Stärken setzen

Die typische Schulbildung ist aufgrund der geforderten sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten oftmals  mit Schwierigkeiten verbunden und bedarf meist zusätzlicher Unterstützung. Bei der beruflichen Ausbildung besteht dagegen die Chance, den Fokus auf eigene Stärken zu legen, betonen die Autoren.

Eine routinemäßige Behandlung mit Testosteron bereits im Säuglings- und Kleinkindalter kann aufgrund einer unzureichenden Datenlage nach Ansicht der Autoren nicht empfohlen werden. Bei einem Mikropenis sollte eine Überweisung an einen pädiatrischen Endokrinologen und bei Kryptoorchidismus an einen pädiatrischen Urologen erfolgen.

Ab der Pubertät ist bei klinischem Hypogonadismus (s. Kasten) die Behandlung mit Testosteron die Therapie der Wahl. Positive Wirkungen umfassen eine verringerte Fettmasse, verbesserte Muskelkraft, Knochendichte, Lipido und Stimmung. Zur Auswahl stehen intramuskuläre, subkutane und transdermale Applikationsformen. Die Autoren weisen darauf hin, dass der Testosteronwert ab der Pubertät morgens zu bestimmen ist, da v.a. der nächtliche Anstieg des Testosteronspiegels ausbleibt. Ein nachmittags gemessener Wert hat keine Aussagekraft.

Männer mit Klinefelter-Syndrom haben eine normale Lebenserwartung, aber ein erhöhtes Risiko für Osteoporose, kardiovaskuläre Erkrankungen und Brustkrebs. Bei der lebenslangen Behandlung sind deshalb neben regelmäßigen endokrinologischen auch entsprechende klinische und laborchemische Kontrollen erforderlich.

Quelle: Butler G et al. Arch Dis Child 2022; DOI: 10.1136/archdischild-2020-320831