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Big Data und Künstliche Intelligenz Von 30 Minuten auf 25 Sekunden

Autor: Antje Thiel

Das Motto der Stunde: Synergien nutzen, statt zu kämpfen. Das Motto der Stunde: Synergien nutzen, statt zu kämpfen. © aleutie – stock.adobe.com
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Ängste, dass man aufgrund der Fortschritte auf dem Gebiet selbstlernender Maschinen in ein paar Jahren überflüssig sein könnte, müssen Diabetologen nicht haben. Rechenoperationen können eine ärztliche Beratung nicht ersetzen, sagt ein Experte. Aber die KI kann Datenberge durchforsten und bei einer präziseren Diagnostik helfen.

Einer der Träume der Präzisionsmedizin ist es, dass Dia­gnosen ohne invasive Biopsien gestellt werden können, betonte Dr. Ana­ Viñuela­, Bereichsleiterin für Genetik und computergestützte Biologie an der University of Newcastle. Sie präsentierte Ergebnisse der DIRECT-Studie, die darauf abzielt, durch Marker in Blutproben Muster für molekulare Phänotypen zu erkennen. Damit soll sich das Risiko für eine nicht-alkoholische Fettlebererkrankung genauso präzise vorhersagen lassen wie mittels MRT-Diagnostik. 

Schlaue Assistenten statt brillante Über-Doktoren

DIRECT umfasst Blutproben von rund 3.100 Menschen, aus denen sich insgesamt 22 klinische Variablen ableiten ließen. „Was die Verlässlichkeit der Prognose angeht, sind wir noch nicht da, wo wir sein wollen“, gab die Forscherin zu. Doch sie zeigte sich zuversichtlich, dass die Daten aus Gewebeproben zunehmend als neue diagnostische Instrumente genutzt werden können. Diese würden mit wachsendem Verständnis für die molekulare Ätiologie von Erkrankungen genauere Voraussagen ermöglichen.

Diese diagnostischen Tools machen Ärzte aber keineswegs überflüssig, wie Professor Dr. Gunnar­ Hartvigsen­ vom Fachbereich Informatik an der University of Tromsø betonte. Als Beispiel nannte er IBM Watson Health als einen der wichtigsten Treiber von KI-Entwicklungen. Die bisher entworfenen Produkte seien nicht die „brillanten Über-Doktoren“, vor denen man sich fürchten müsse. „Sie sind vielmehr schlaue Assistenten, die bestimmte Routineaufgaben übernehmen können.“ In der Diabetologie zählt z.B. die Glukosekontrolle mit AID-Systemen dazu. Mithilfe von Algorithmen kann eine KI beispielsweise Mahlzeiten erkennen, die nicht in den Boluskalkulator eingegeben wurden, und so den postprandialen Glukoseanstieg begrenzen.

Was steckt hinter der „KI“

Unter „Künstlicher Intelligenz“ (KI) versteht man generell den Versuch, mithilfe eines Computers menschliches Verhalten zu imitieren. Erste Versuche wurden bereits in den 1950er- bis 1970er-Jahren unternommen. Ab den 1980er-Jahren entwickelte man hieraus das maschinelle Lernen. „Dabei lernt der Computer aus vorliegenden Trainingsdaten und leitet hieraus Vorhersagen ab“, erklärte Professor Dr. Fabian Theis, Leiter des Institute of Computational Biology am Helmholtz Zentrum in München. Seit Mitte der 2000er-Jahre wurde das maschinelle Lernen zum „Deep Learning“ weiterentwickelt, bei dem künstliche neuronale Netze (Deep Neural Network) dafür genutzt werden, ansonsten verborgene Verknüpfungen sichtbar zu machen. Sprach- und Bilderkennung, wie sie mittlerweile jedes Smartphone beherrscht, ist ein Beispiel für eine einfache KI: „Das ist vor allem deshalb möglich, weil mittlerweile so ungeheuer viele Trainingsdaten verfügbar sind“, sagte Prof. Theis. Maschinelles Lernen steckt hinter Programmen wie Freder1k, die das genetische Risiko für das Auftreten eines Typ-1-Diabetes berechnen. Mit Deep Learning lassen sich z.B. Modelle zur Vorhersage der Progression einer diabetischen Retinopathie erstellen.

Die Mustererkennung in AID-Systemen lässt sich aber auch dafür nutzen, unbemerkte Infektionen und die daraus entstehenden (ansteckenden) Erkrankungen zu detektieren, da diese zu typischen Veränderungen im Glukoseverlauf führen. So könnten die Betroffenen ihre Therapie schneller anpassen und ihre Umgebung schützen. Auch für die Diagnose und Verlaufsprognose diabetischer Neuropathien kann KI einen Fortschritt bedeuten, wie Professor Dr. Rayaz­ Malik­ vom Weill Cornell Medical College in Katar berichtete. „Diabetische Neuropathie wird oft als Cinderella-Komplikation bezeichnet, weil wir bei ihr diagnostisch quasi im 19. Jahrhundert stehengeblieben und vor allem auf die klinische Untersuchung angewiesen sind.“ 

Bald Standard in der Verlaufskontrolle chronischer Wunden?

Dabei lassen sich Nervenschäden in der Peripherie auch mittels konfokaler Corneamikroskopie feststellen – einem Verfahren, das in der Augenheilkunde bereits gut eta­bliert ist und sich nicht nur für die Diagnose schwerer Nervenschäden, sondern auch im sehr frühen Stadium eignet. Allerdings nahm die Analyse der entsprechenden Bilder mit 30 Minuten bislang viel zu viel Zeit in Anspruch. Ein selbstlernender Algorithmus schaffe das mittlerweile in 25 Sekunden und könne mit hoher Sicherheit einschätzen, ob das vorliegende Bild von einem gesunden Patienten oder einer Person mit dia­betischer Neuropathie stamme. Vollständig in der klinischen Versorgung angekommen ist ein KI-Projekt zur Verlaufskontrolle bei chronischen Wunden wie der diabetischen Fußulzera, das Dr. Sheila­ Wang­, Dermatologin am University Health Centre in Montreal, vorstellte. „Beim Ausmessen der Wundfläche kommt es in 40 % der Fälle zu Fehlern. Dabei ist die Frage, ob die Wundfläche wächst oder sich verkleinert, von entscheidender Bedeutung für die Prognose der Patienten.“ Anstelle konventioneller Instrumente wie Papierstreifen oder Lineal kommt bei ihr und ihrem Team in der Wunddokumentation eine Smartphone-App zum Einsatz. Diese hält neben der Ausdehnung auch die Farbe der Wunde fest.

Auch bei dunkleren Hauttypen ist auf die App Verlass

Auf Basis der dokumentierten Daten analysiert ein Algorithmus die vorgefundenen Gewebetypen, entzündete Areale, Wundtiefe und auch mögliche subkutane Fisteln, die dem menschlichen Auge in der Regel verborgen bleiben, erläuterte Dr. Wang. Ebenso ist ein telemedizinischer Einsatz möglich. „Das System eignet sich auch für dunklere Hauttypen, bei denen man Rötungen nicht so leicht erkennen kann“, so die Dermatologin weiter.  Die gewonnenen Einsichten helfen bei der Einschätzung der Prognose und der Planung der weiteren Therapie, ist die Expertin überzeugt.

Kongressbericht: EASD Annual Meeting 2021